Südtirol Online: Herr Steck, die Bilder ähneln sich erschreckend stark. Sehen Sie Parallelen zwischen dem Unglück in Bad Aibling und jenem in der Latschander? Albin Steck, seit 2005 Notfallpsychologe und Koordinator des Psychologischen Dienstes im Vinschgau: Ja. In beiden Fällen handelt es sich um ein Zugunglück mit etlichen Toten, viele Verletzten. Ein Großschadensereignis, ein sogenannter „Massenanfall“ von Verletzten. Für die Notfallpsychologie und die Psychosoziale Notfallversorgung heißt das, dass auch für die nächsten Tage, Wochen und Monate zusätzliche Ressourcen mobilisiert und koordiniert werden müssen. Das ist sehr viel zusätzliche Arbeit, wobei die normale Arbeit ohnehin schon recht viel ist.Das Vinschger Zugunglück kommt mir immer wieder mal in den Sinn. Damals habe ich zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen sowie der Notfallseelsorge zunächst die Betroffenen betreut, die noch völlig im Ungewissen waren und auf ihre Angehörigen warteten. Später war ich bei der Begleitung zur Identifizierung und Verabschiedung dabei. STOL: Ist es möglich, dass mit dem Zugunglück von Bad Aibling bei Betroffenen des Vinschger Zugunglücks alte Wunden wieder aufgerissen wurden? Steck: Bei solchen Bildern, die jenen des Vinschger Zugunglücks doch sehr ähneln, rücken die Erinnerungen spontan zurück ins Bewusstsein. Die meisten der Betroffenen haben nach bald sechs Jahren den nötigen Abstand gefunden. Es ist jedoch gut denkbar, dass die Nachricht einige in einem ungeschützten Zustand überrascht hat. Das könnte Panik ausgelöst haben.STOL: Was verstehen Sie unter „ungeschütztem Zustand“?Steck: Wenn die Nachricht der bayerischen Zugkatastrophe die Menschen wie ein Blitz aus heiterem Himmel erwischt hat. In einem Moment, in dem sie absolut nicht an das Unglück von damals dachten. Und zudem vielleicht gerade mit jemanden gestritten oder sich über jemanden geärgert haben und so emotional geschwächt waren. Dann hat die Nachricht vielleicht einen Krisenzustand ausgelöst haben. Foto: D/AFP STOL: Macht es für die Hinterbliebenen in der Trauerbewältigung einen Unterschied, ob ein geliebter Mensch allein bei einem Autounfall ums Leben kommt oder in einer Massenkatastrophe?Steck: In den ersten Stunden nach der Todesnachricht – wir sprechen von der akuten Phase – macht das kaum einen Unterschied. Später allerdings schon: Dann ist es ein großer Unterschied, ob man die Trauer alleine oder im Verbund mit anderen Betroffenen erlebt.STOL: Ist es für Hinterbliebene somit „leichter“ mit dem Verlust fertig zu werden, wenn ein geliebter Mensch in einer Massenkatastrophe stirbt?Steck: In gewisser Weise schon. Die Hinterbliebenen fühlen sich in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden. Jemand, der dasselbe erleben muss, der versteht mich auf Anhieb. Natürlich muss verhindert werden, dass sich die Betroffenen gegenseitig hinunterziehen. Doch es gibt etliche Beispiele, die zeigen, dass solche Betroffenen-Netzwerke zusammenschweißen und über Jahre bestehen.STOL: Wie wichtig ist es für Betroffene, die Unfallursache herauszufinden, damit ein Verarbeiten leichter wird?Steck: Für den Menschen ist es bezeichnend, dass er intensiv nach Erklärungen für unvorhergesehene Ereignisse sucht, für Notfälle umso mehr. Das hängt auch damit zusammen, dass der Mensch alles tun möchte, um sich in Zukunft sicherer fühlen zu können.STOL: Nun soll ein Mensch an der Katastrophe schuld sein.Steck: Angenommen die Betroffenen befinden sich noch in der akuten Phase – mit Verleugnung, Panik, Angst, Wut und massiver Trauer –, dann sind sie gar nicht aufnahmefähig. Erst später beginnen sie zu rekonstruieren: Wann habe ich den Verstorbenen zum letzten Mal gesehen? Wie habe ich ihn verabschiedet? Wer hat mir die Todesnachricht überbracht? Und erst in dieser späteren Phase kommt dann auch die Frage nach dem „Warum“, also die Unfallursache.STOL: Die Frage nach dem „Warum“ stellt sich Betroffenen also kaum.Steck: Das stimmt. Betroffene fragen sich: "Warum trifft gerade mich dieses Schicksal?". Doch das ist eine ganz andere Frage als jene nach dem technischen "Warum". Medien beispielsweise denken als Außenstehende. Für solche ist die Frage nach der Unfallursache schon unmittelbar nach der Katastrophe relevant. Aber für Betroffene nicht. Die müssen erst ihre Emotionen bewältigen.STOL: Wut zählt zu den Emotionen der akuten Phase. Ist es somit sinnvoll, dass der beschuldigte Fahrdienstleiter an „einen sicheren Ort“ gebracht wurde?Steck: Ja. Mit all den starken Emotionen denkt ein Betroffener nicht mehr so, wie er in einer normalen Alltagssituation denken würde. Man muss auch bedenken, dass der Fahrdienstleiter selbst Direkt-Betroffener, wir sagen dazu Primär-Betroffener, ist. Und Betroffene müssen geschützt werden.STOL: Können die Betroffenen so eine Katastrophe jemals vollständig verarbeiten?Steck: Prinzipiell ja. Es ist sogar möglich, dass sie letztendlich an der Katastrophe wachsen. Es hängt davon ab, welche Haltung ein Mensch hat, welche Lebensphilosophie, welche religiösen und spirituellen Überzeugungen. Aber auch ohne diese kann ein psychisch robuster Mensch eine Katastrophe verarbeiten. Doch gibt es auch Menschen, die daran zerbrechen, die verbittern und vereinsamen.STOL: Und was gilt für den mutmaßlichen Schuldigen?Steck: Von allen Betroffenen hat er es, in der Regel, am schwersten. Es ist ein sehr, sehr langer Prozess, er dauert Jahre, immer mit dem Risiko für Rückfälle. Aber auch er kann darüber hinwegkommen. Ich denke, ich kann das einigermaßen beurteilen, denn auch ich betreue beispielsweise LKW-Lenker, die einen tödlichen Unfall verursacht haben. Diese Personen müssen über längere Zeit intensiv betreut werden. Doch irgendwann können sie das Ereignis mit ein bisschen mehr Distanz betrachten. Die Gefühle ändern sich.STOL: Was genau heißt das?Steck: Am Anfang sind die Gefühle, vor allem Schuldgefühle, überwältigend negativ, sehr diffus, schwer zu beschreiben. Später können die Betroffenen den Gefühlen einen Namen geben und die Abläufe rund um den Unfall besser beschreiben. Das ist ein sicheres Zeichen für Aufarbeitung. Das Nonplusultra ist ein Treffen zwischen dem Schuldigen und den Angehörigen der Opfer – irgendwann.STOL: Der Prozess zum Vinschger Zugunglück endete ohne Schuldigen. Was bedeutet das für die Betroffenen?Steck: Den Angehörigen war lange Zeit wichtig, die wirkliche Ursache für das Unglück zu kennen, um mit dem Geschehenen leichter umgehen zu können. Ob es für Betroffene nun leichter ist, wenn menschliches Versagen oder ein technischer Defekt die Schuld am Unglück tragen, hängt von der Haltung des Einzelnen ab: Ob er generell lieber Menschen oder die Technik beschuldigt.STOL: Welcher Typ muss man sein, um den Job eines Notfallpsychologen auszuüben? Immer, wenn man zur Arbeit gerufen wird, warten Tränen, Leid und Tod.Steck: Grundsätzlich ist die Aufgabe von Psychologen menschliches Leid zu verhindern oder es so weit als möglich zu lindern. Als Notfallpsychologe arbeiten zu wollen, ist zunächst eine persönliche Entscheidung. Wenn auf mich Tränen und Äußerungen von Leid warten, dann beruhigt mich das. Es sind in der akuten Phase normale, notwendige und gesunde Reaktionen. Wenn das Weinen in den Stunden danach nicht da ist – was ich auch schon erlebt habe – dann weiß ich, dass es viel zu tun gibt.STOL: Den „Ich schaffe das nicht mehr“-Gedanken kennen Sie nicht?Steck: Manchmal kommt der Gedanke, nicht allzu häufig. Und immer nur dann, wenn ich unvorbereitet, beispielsweise außerhalb des Bereitschaftsdienstes, plötzlich zu einem Einsatz gerufen werde. Das fühlt sich dann so an, als würde man in eiskaltes Wasser geworfen. Grundsätzlich ist es so, dass man nach einem Einsatz als Sekundär-Betroffener gilt. Das heißt aber auch, dass man an Auflagen gebunden ist: Mehrmals im Jahr führen wir Einsatznachbesprechungen mit Fachleuten oder besprechen die Einsätze mit Kollegen. Und: Einsatzkräfte sind der Situation nicht völlig hilflos ausgeliefert. Sie können anderen helfen, das ist entscheidend.STOL: Können Sie besser mit dem Tod von Angehörigen umgehen?Steck: In der akuten Phase reagiere ich sicher gleich wie alle anderen. Doch später hilft mir die eigene Erfahrung.STOL: Wie sind Sie privat? Und wie kriegen Sie den Kopf frei?Steck: Ich bin weder verschlossen noch besonders lustig. Ich erlebe mich meist als ausgeglichen. Ich trage gerne Verantwortun, mir sind meine Mitmenschen ein Anliegen. Meine Haltung, die ich beruflich trage, kann ich auch privat nicht komplett abstreifen. Ausgleich ist mir wichtig. Ich wandere gerne und bin ein begeisterter Hobbygärtner.Interview: Petra Gasslitter