„Ich bin dankbar, dass ich die Verantwortung abgeben kann“, sagt Raimund Schreier, der 55. Abt des Prämonstratenserstiftes Wilten, im Interview mit s+ und erzählt, wie er seine Zeit als Abt erlebt hat, was er nun vorhat und was er seinem Nachfolger wünscht.<BR /><BR /><b>Sie waren jetzt 31 Jahre Abt des Prämonstratenserstiftes Wilten. Wenn Sie zurückblicken, was bleibt für Sie in prägender Erinnerung?</b><BR />Abt Raimund Schreier: Ja, 31 Jahre, das ist eine lange Zeit für so ein Amt. Andererseits, man lernt immer dazu. Unglaublich. Es waren so viel Dinge, mit denen man vorher nie gerechnet hat. Wenn man mich früher gefragt hätte, was man als Abt so alles tun muss, hätte ich keine klare Antwort geben können. Eine große Herausforderung in dieser Zeit war das Thema des Missbrauchs in der Kirche. Das war für uns ganz neues Terrain; denn es gab auf diesem Gebiet keine Erfahrungen in der ganzen Kirche. Darüber wurde früher einfach nicht geredet. Zum Glück hatte ich gute Berater, darüber war ich sehr froh.<BR /><BR /><b>Wie sind Sie als Abt dabei vorgegangen?</b><BR />Schreier: Ich habe versucht, soweit möglich, mich der Sache offensiv zu stellen. Ich habe die Opfer zu Gesprächen eingeladen. Einige haben das Angebot angenommen und waren froh, darüber sprechen zu können, andere wünschten sich eine Therapie.<BR /><BR /><b>Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie aus dieser Krise mitgenommen?</b><BR />Schreier: Ich habe in all diesen Gesprächen viel gelernt. Den Opfern wurde ja teilweise vorgeworfen, dass sie sich erst nach 20, 30 Jahren melden. Nachdem sie sich nicht schon früher gemeldet hatten, wird wohl der Missbrauch erfunden sein – so die Meinung vieler. Ich habe jedoch in diesen Gesprächen erfahren, dass sich die meisten Opfer nicht getraut haben, darüber zu sprechen, ja psychisch nicht fähig waren, darüber zu reden. Es waren sehr ehrliche Gespräche, und ich habe ihnen auch geglaubt: Es gab nur wenige, wo ich unsicher war. Viele von ihnen haben sehr darunter gelitten, konnten aber eben nicht darüber sprechen. Diese Aufarbeitung war sehr herausfordernd bis in die Jetzt-Zeit.<BR /><BR /><b>Das war also ein Tiefpunkt in Ihrer Zeit als Abt?</b><BR />Schreier: Ja, mit Sicherheit. Eine weitere andauernde Schwierigkeit, die sich durch unsere Geschichte zieht, ist die Trennung in 2 Konvente: Einige leben im Haus, einige draußen in den Pfarreien. Die beiden Grundpfeiler unseres Ordens sind die Kontemplation und die Aktion, also das gemeinsame Gebet und die Seelsorge. Beides gehört jedoch zusammen. Deshalb sollten Prämonstratenser als Gemeinschaft zusammenleben – und nicht verstreut in den Pfarreien. Wilten hat 23 Pfarreien, die seelsorgerisch besetzt werden müssen. Aber es gibt eben auch das Klosterleben. Da beten wir 3 Mal am Tag für alle Menschen dieser Erde. Junge Männer, die sich zu diesem Orden berufen fühlen, kommen nur, wenn es ein blühendes Gemeinschaftsleben gibt.<BR /><BR /><embed id="dtext86-59657400_quote" /><BR /><BR /><b>Ihr Wahlspruch bei der Abtwahl 1992 war „Damit die Welt glaube“. Ist dieser somit aktueller denn je oder?</b><BR />Schreier: Ja. Wir Menschen müssen eins sein, erst dann wird die Welt glauben, dass Christentum etwas Attraktives ist. Das Ziel wäre die Einheit. Wir können noch so viel predigen und g'scheit reden. Wenn wir das nicht vorleben, dann glaubt uns die Welt nicht.<BR /><b><BR />Wie viele andere Stifte ist das Prämonstratenserstift Wilten auch ein Wirtschaftsunternehmen. Wie schafft man als Abt den Spagat zwischen spiritueller Leitung und Firmenchef?</b><BR />Schreier: Ich habe das Glück gehabt, dass ein Jahr vor meiner Abt-Wahl Abt Alois, mein Vorgänger, mich zum Verwalter ernannt hat. Ich hatte nie damit gerechnet, da ich von Wirtschaft null Ahnung hatte. Als ich dann Abt geworden bin, hatte ich zumindest einen guten Einblick in die wirtschaftliche Materie. Als Verwalter habe ich dann einen Laien angestellt. Ein Kloster ist ja auch ein Wirtschaftsbetrieb. Jedoch müssen wir bei einem fast 900-jährigen „Betrieb“ auch in Jahrhunderten denken. Wir können daher nicht alles verkaufen und verscherbeln. Leider haben wir in diesen 900 Jahren auch viel Eigentum verloren – z.B. unter der bayrischen Regierung im 19. Jahrhundert oder während der Nazizeit im Zweiten Weltkrieg. Da auch die Subventionen von politischer Seite immer geringer werden, müssen wir uns selbst auf die Füße stellen.<BR /><BR /><b>Wie ist Ihre Entscheidung, Priester zu werden und für die Prämonstratenser gefallen?</b><BR />Schreier: Der Lehrerberuf hat mich immer fasziniert. Auch der Arztberuf – jedoch hatte ich Angst, jemandem weh tun zu müssen, etwa mit einer Spritze. Gleichzeitig hat mich Musik total begeistert. Mit 14,15 Jahren habe ich angefangen, Klavier zu spielen, später Orgel. Der Wunsch, Priester zu werden, war eigentlich immer schon präsent. In der siebten, achten Klasse habe ich mir dann gedacht: Wenn ich Priester werde, dann kann ich auch Lehrer sein, nämlich Religion unterrichten. Als Priester habe ich viel mit Musik zu tun: Ich darf und soll singen bei den Gottesdiensten. Und als Priester kann ich Menschen wie ein Arzt heilen – zwar nicht den Körper, aber die Seele. Tatsächlich habe ich dann viele Jahre unterrichtet. Ich habe bei den Konzerttourneen unserer Sängerknaben manchmal sogar mitgesungen, nicht nur gemanagt. Und ich konnte in vielen Gesprächen und in der Feier der Versöhnung den Menschen sagen: Deine Sünden sind dir vergeben! Ich bin also als Priester auch Lehrer, Musiker und Arzt. Ich habe die damalige Entscheidung, Priester zu werden, bis heute nicht bereut. <BR /><BR /><b>Es wird für Stift Wilten immer schwieriger, die 23 Pfarreien seelsorgerisch zu betreuen. Haben Sie eine Lösung für den Priestermangel?</b><BR />Schreier: Es ist ein Faktum, dass die jüngere Generation praktisch keinen Bezug mehr zum Glauben oder zur Kirche hat. Früher wurde der Glaube durch die Familie und durch ein blühendes Pfarrleben mitgegeben. Heute muss man die Schönheit des Christseins entdecken: In einer christlichen Familie, der man begegnet, einer christlichen Gemeinschaft, an einem spirituellen Ort, wo man erleben kann, was heute Christsein bedeutet. Ich glaube daher, dass es spirituelle Zentren wie ein Kloster braucht, wo Leute die Erfahrung machen können, dass Christsein etwas ganz Faszinierendes sein kann. Dadurch wird ein ehrliches und konkret christlich gelebtes Leben sicher wieder authentischer.<BR /><BR /><b>Was machen Sie jetzt, da Sie nicht mehr Abt sind</b>?<BR />Schreier: Ich bin froh, dass ich die Verantwortung abgeben kann. Ich werde dadurch mehr Zeit für priesterliche Aufgaben haben. Ab Oktober möchte ich mich für ein Jahr zurückziehen, damit der neue Abt ohne meinen Schatten Fuß fassen kann. Auch wenn ich nichts sage, ist es nicht gut, wenn ich da bin. Ich werde ein Semester nach Rom gehen, im zweiten Semester nach Jerusalem – sofern es die politische Lage erlaubt. Ich möchte diese Zeit für Studium und spirituelle Vertiefung nutzen. Darauf freue ich mich sehr. Dann werde ich wieder ins Kloster zurückkommen und priesterliche Aufgaben übernehmen.<BR /><BR /><b>Was wünschen Sie Ihrem Nachfolger?</b><BR />Schreier: Die Unterscheidung der Geister, die Fähigkeit, gut hinzuhören und zu erkennen, was echt und wahr ist, und vor allem viel Geduld. Man kann nicht sofort alles ändern, wie man möchte. Also viel Geduld und einen langen Atem.