Monica Cristina Gallo, Garantin für die Rechte von Personen, denen die Freiheit entzogen wurde, berichtet im Interview von erschreckenden Zuständen. Viele Insassen hätten sich selbst verletzt, 2022 habe es über 100 Suizidversuche gegeben und zudem sei es immer wieder zu Revolten gekommen – so auch heuer – und seit März sei das Zentrum geschlossen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="942952_image" /></div> <BR /><BR /><b>Wie viele Personen waren bis zur Schließung im Abschiebezentrum untergebracht?</b><BR />Monica Cristina Gallo: Bei der letzten Ausschreibung der Führung des Zentrums wurde eine Maximalkapazität von 140 Personen angegeben – bei der vorherigen Ausschreibung waren es 180 Personen gewesen. Ein Teil des Zentrums ist dann zerstört worden. <BR /><BR /><b>Wie lange haben sich die Einwanderer in diesem Zentrum aufgehalten?</b><BR /> Gallo: Im Dekret der früheren Innenministerin Luciana Lamorgese war die die maximale Aufenthaltsdauer mit 90 Tagen festgelegt worden. In dem Moment, wo eine Person im Zentrum Asyl beantragt, erhält sie internationalen Schutz und man wartet dann den Abschluss des gesamten Verfahrens ab. Dann konnte diese Person auch etwa ein Jahr im Zentrum bleiben – wenn ein Verfahren sehr langsam war und sich schwierig gestaltete. Ein Jahr blieben aber nur wenige Personen.<BR /><BR /><b>Wer hat diese Einwanderer überwacht?</b><BR />Gallo: Die Staatspolizei, manchmal auch die Carabinieri, zudem das Heer und auch die Finanzwache. <BR /><BR /><embed id="dtext86-61386311_quote" /><BR /><BR /><b>Wer wurde in diesem Zentrum untergebracht – nur Einwanderer, die auch eine Straftat begangen haben?</b><BR />Gallo: Im Jahr 2022 wurden 879 Einwanderer vorübergehend in Turin untergebracht. Davon kamen 199 Personen aus Gefängnissen, hatten also Straftaten begangen und waren ins Abschiebezentrum überstellt worden. 680 weitere Personen wurden hingegen festgehalten weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung hatten, mit der sie sich hätten regulär in Italien aufhalten können. <BR /><BR /><b>Waren unter diesen 680 Personen auch einige, die Straftaten begangen hatten, wofür sie aber noch nicht vor Gericht verurteilt worden waren?</b><BR />Gallo: Ja, einige waren darunter. Wir hatten im Laufe der Jahre aber auch viele Personen im Abschiebezentrum, die absolut keine Straftat begangen haben. Sie waren in anderen Städten Italiens aufgegriffen worden – hatten keinen Wohnsitz – und weil in den anderen Abschiebezentren kein Platz war, wurden sie zu uns gebracht.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="942955_image" /></div> <BR /><BR /><b>Wie viele Personen wurden 2022 in Turin in ihr Ursprungsland abgeschoben?</b><BR />Gallo: Von den 879 Personen konnte nur eine kleine Zahl – 235 – effektiv abgeschoben werden. Die anderen wurden hingegen wieder frei gelassen. <BR /><BR /><b>In Ihrem Zentrum hat es im März eine Revolte gegeben. Was ist da genau passiert?</b><BR />Gallo: Matratzen wurden angezündet, ein Teil der sanitären Einrichtung wurde zerstört, Wasserhähne wurden herausgerissen...<BR /><BR /><b>Gab es auch Verletzte?</b><BR />Gallo: Einige haben sich Verbrennungen zugezogen – niemand wurde aber schwer verletzt.<BR /><BR /><b>Kommen solche Revolten häufig vor?</b><BR />Gallo: Revolten sind in solchen Abschiebezentren üblich. Nicht nur in Turin hat es solche Aufstände gegeben, sondern auch in anderen Zentren. Solche Revolten entstehen, wenn Menschen eine „leere Zeit“ verbringen: Die festgehaltenen Personen wissen nicht, wohin sie dann gehen werden und wie es für sie weitergehen wird. Sehr oft verstehen diese Leute nicht einmal die Gründe für diese Art von administrativer Haft. <BR />Sie dürfen in diesen Zentren nicht einmal ihr Handy benutzen, um jemanden anzurufen oder sich damit zu beschäftigen. Das Handy wird ihnen abgenommen. Sie können zwar telefonieren – von bestimmten Punkten im Abschiebezentrum aus – mit einer Telefonkarte, die sie von der Körperschaft erhalten, die das Zentrum führt. Mit dieser Karte können sie – so weit ich mich erinnere – für einen Betrag von 5 Euro in der Woche telefonieren. Mit solchen Karten internationale Telefonate zu führen, ist ziemlich kompliziert. <BR />Im Unterschied zu einem Gefängnis sind in diesem Zentrum keine Beschäftigungen vorgesehen. Es gibt keine Vereinigungen oder Körperschaften im Zentrum, die sich darum kümmern, diese Menschen zu beschäftigen. Es gibt somit auch beispielsweise keine Werkstätten. Aufgrund dieser Leere bleibt für die Menschen Zeit, sich jede Form von Protest auszudenken. Sie wollen raus aus diesem schwer ertragbaren Ambiente.<BR /> Schwer ertragbar ist auch die Architektur. Die Gitter sind 6 Meter hoch – es sind große Käfige. In solchen Käfigen kann man nicht ein frohes Leben führen. Der eigene Körper wird zum einzigen Objekt der Beschäftigung. Deshalb begehen diese Insassen dann auch häufig Selbstverletzungen: Einige haben sich absichtlich die Gliedmaßen gebrochen, indem sie gegen Türen schlugen oder sie überschütteten sich mit kochendem Wasser. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="942958_image" /></div> <BR /><BR /><BR /><b>Gab es auch Suizidversuche in Ihrem Zentrum?</b><BR />Gallo: Im Jahr 2022 hatten wir über 100 Suizidversuche. Vor 11 Jahren – im Jahr 2012 – gab es im Zentrum 5 Einsätze, bei denen die Notrufnummer 118 (inzwischen 112, Anm. der Red.) gewählt wurde. Im Jahr 2022 waren es hingegen 201 Anrufe: So oft hat das Sanitätspersonal in einem Jahr die Notrufnummer gewählt, weil ein Einsatz im Zentrum notwendig war.<BR /><BR /><b>Was passiert mit Personen, die nicht in ihr Ursprungsland abgeschoben werden können?</b><BR />Gallo: Sie werden frei gelassen und erhalten einen Schubbefehl: Innerhalb von 8 Tagen müssen sie Italien verlassen. Das ist dann aber für sie nicht durchführbar: Sie haben absolut nicht die ökonomischen Ressourcen, um autonom auszureisen. So kommt es dann, dass manche von ihnen nach 6 Monaten wieder aufgegriffen werden und dann fängt alles wieder von vorne an.<h3> Mit vielen Ländern kein Abkommen</h3><b><BR /> Hat Italien mit vielen Ländern ein Abkommen getroffen, damit diese in Italien abgeschobenen Einwanderer dorthin zurückgebracht werden können?</b><BR />Gallo: Italien hat ein Abkommen mit Tunesien, Marokko, Nigeria, Albanien und Georgien. Aber mit sehr vielen anderen Ländern gibt es kein solches Abkommen. Und mit diesen Ländern ist es oft schwierig, weil sie nicht anerkennen, dass es ihre Landsleute sind. <BR /><BR /><b>In Ihrem Zentrum wurden Personen aus vielen verschiedenen Kulturen untergebracht..</b>.<BR />Gallo: Ja. Da gab es keine Trennung zwischen diesen Kulturen – auch nicht zwischen Alt und Jung. Dieses Nicht-Trennen der Kulturen ist dann oft auch die Basis für Konflikte. <BR /><BR />