Ist Autismus vererbbar? Kann ein Laie Autismus erkennen? Gibt es Medikamente für Autismus? Fragen über Fragen zu einem Thema, bei denen die meisten wohl vor allem zwei Persönlichkeiten vor Augen haben: Dustin Hoffmann im Film „Rain Man“ und Klimaaktivistin Greta Thunberg. <BR /><BR /><b>Frau Dr. Arcangeli, ist man von Geburt an Autist oder kann man im Laufe des Lebens zum Autisten werden?</b><BR />Dr. Donatella Arcangeli: Man wird mit einem autistischen Gehirn geboren. Autismus kann in verschiedenen Altersklassen als solcher erkannt werden, es kommt ganz darauf an, welche Form von Autismus der Patient hat und wie stark er durch Autismus eingeschränkt ist. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="754184_image" /></div> <BR /><BR /><BR /><b>Was ist denn der Unterschied zwischen einem „normalen“ Gehirn und einem autistischen Gehirn?</b><BR />Dr. Arcangeli: Die wissenschaftliche Antwort lautet: Das autistische Gehirn funktioniert auf eine atypische Weise. Optisch ist das Gehirn nicht anders als ein „normales“ Gehirn. Typisch sind Unterschiede in drei Bereichen zugleich. Erstens haben Autisten Kommunikationsprobleme – Greta Thunberg, die am Asperger Syndrom leidet, hat wie die meisten mit diesem Syndrom dieses Problem kaum. Als Kommunikationsproblem ist aber nicht nur das flüssige Reden an sich zu verstehen, sondern auch die Fähigkeit, anderen seine Gedanken und Bedürfnisse mitzuteilen. Das zweite Merkmal ist die Schwierigkeit, sozial zu interagieren, vor allem, die Initiative dazu zu ergreifen. Das dritte Merkmal ist das begrenzte und ripetitive Interesse – das ist der genaue wissenschaftliche Ausdruck für das, was viele als typisch für Autismus einordnen. Schon Kinder können ein starkes Interesse für ein Gebiet zeigen, und in dem Gebiet wissen sie alles bis ins kleinste Detail. Es gibt solche, die wissen alles über Dinosaurier, andere über Insekten, Fahnen, andere interessieren sich für Astronomie, kennen die Fahrpläne für öffentliche Verkehrsmittel auswendig, ich habe z. B. durch ein autistisches Kind gelernt, wie viele verschiedene Bohnenarten es gibt. <BR /><BR /><b>Können Eltern Autismus als solchen erkennen?</b><BR />Dr. Arcangeli: Die meisten Eltern erkennen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Oft sind es auch die Erzieherinnen von Kita oder häufiger Kindergarten, die die Eltern darauf hinweisen. Sehr oft sind die Kinder etwa 4 Jahre alt, wenn Autismus diagnostiziert wird. <BR /><BR /><embed id="dtext86-53613553_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Welches sind die Anzeichen für Autismus, bei denen Eltern hellhörig werden sollten?</b><BR />Dr. Arcangeli: Eltern merken, dass ihr Kind mit zwei Jahren noch nicht spricht, dass es sich schwer tut, Menschen direkt in die Augen zu sehen und sogar per Augenkontakt mit seinen Eltern zu kommunizieren, zudem haben die Kinder oft urplötzlich Gefühlsausbrüche verschiedenster Art. Häufig entwickeln Kinder eine Wahrnehmungsstörung und zeigen ein selektives Ernährungsverhalten, was wir in der Fachsprache als andersartiges Essverhalten bezeichnen. Sie essen beispielsweise nur Nahrung einer bestimmten Farbe, einer bestimmten Konsistenz, mit einer bestimmten Geschmacksrichtung oder Geruch – oder sie schließen genau definierte Nahrungsmittel aus. <BR /><BR /><b>Viele Eltern erschrecken, wenn sie hören, sie sollen ihr kleines Kind zum Psychiater bringen. Dieses Berufsbild ist immer noch mit vielen Vorurteilen verknüpft...</b><BR />Dr. Arcangeli: Es gibt im Grunde drei Spezialisierungen in der Medizin, die sich mit Kinderheilkunde befassen: Pädiater, die verschiedenen Kinderchirurgen und die Kinderneurologie und Kinderpsychiatrie. Letztere zwei sind in den meisten Ländern getrennt, in Italien gehören sie zusammen. Wir Psychiater sind es, bei denen Autismus Teil des Studiums ist. <BR /><BR /><b>Was können Sie für diese Kinder tun?</b><BR />Dr. Arcangeli: Kinder mit Autismus haben besondere Bedürfnisse beim Lernen der Dinge. Alle Erwachsenen, die mit autistischen Kindern zu tun haben, müssen das wissen und sie müssen diese speziellen Techniken der Wissensvermittlung anwenden, sonst kann dieses Kind die Dinge nicht lernen, es wird dann zu einem Kind, das wir als nicht erziehbar einordnen würden. <BR /><BR /><b>Welches ist dann die Basis der Wissensvermittlung?</b><BR />Dr. Arcangeli: Ich versuche, zuerst die Welt eines autistischen Kindes zu beschreiben. Autistische Kinder haben Schwierigkeiten, sich an die Welt anderer gleichaltriger Kinder anzupassen, auch wenn sie sich davon magisch angezogen fühlen. Autistische Kinder brauchen ein geordnetes, sauberes Umfeld mit nicht allzu vielen Stimoli, Aktivitäten müssen genau geplant werden. Mit ihnen muss man einfach und klar sprechen, wenn möglich, mit Hilfe von Bildern. So verstehen sie, was man ihnen sagen möchte, auch wenn sie die Worte vielleicht nicht immer verstehen. Bei autistischen Kindern fangen wir mit etwa 3 Jahren mit psychomotorischen didaktischen Spielen an. Sie müssen das Spielen lernen. So wie sie das Spiel lernen müssen, müssen sie alles im Leben lernen – nach Handbuch. Und so führen sie es dann auch immer aus. Wenn sie etwas nicht können, liegt das häufig an uns: Sie verstehen die Dinge nicht, weil wir sie ihnen nicht richtig gezeigt haben. Die Herausforderung ist es nun, Eltern und Lehrern zu zeigen, welches die richtige Art ist, autistischen Kindern die Dinge zu lernen. <BR /><BR /><b>Bekommen autistische Kinder auch Medikamente?</b><BR />Dr. Arcangeli: Nein, es gibt keine Pharmaka, die Autismus heilen können. Autistische Kinder bekommen nur dann Medikamente, wenn sie andere Störungen entwickeln, beispielsweise Ängste. <BR /><BR /><b>Wurde in diesem Gebiet zu wenig geforscht oder gibt es schlichtweg nichts, womit Autismus geheilt werden kann?</b><BR />Dr. Arcangeli: In den letzten zehn Jahren wurde in diesem Bereich sehr viel gemacht. Wir wissen, dass die Basis für Autismus in der Genetik zu suchen ist, aber es gibt kein Gen, das Autismus auslöst. Bei Autismus funktionieren die Neurotransmitter, also die Verbindungen zwischen den einzelnen Hirnregionen, nicht richtig. Tiefergehende Studien für Medikamente im Bereich Autismus können nur in biochemischen Labors gemacht werden – findet man einmal die Ursache, kann man auch das Medikament suchen. Aber ich denke, das ist Zukunftsmusik, das werde ich wohl nicht mehr erleben. <BR /><b><BR />Wie viele autistische Kinder gibt es in Südtirol?</b><BR />Dr. Arcangeli: Das kann ich Ihnen Ende des Jahres genau sagen, bis dahin möchten wir ein Register der autistischen Patienten erstellen. Aber ich gehe von mindestens 500 unter 21 Jahren aus. <BR /><b><BR /><embed id="dtext86-53613554_quote" /><BR /><BR /><BR />Was passiert, wenn man Autismus nicht erkennt und diagnostiziert?</b><BR />Dr. Arcangeli: Klassischer Autismus wird in der Regel erkannt. Es gibt einzelne Fälle, vor allem jene mit dem Asperger Syndrom, welche nicht erkannt werden. Aber in der Jugendzeit entwickeln diese Patienten häufig psychische Probleme, sie haben Schwierigkeiten, sich in die Arbeitswelt einzugliedern oder haben Probleme mit dem sozialen Umfeld oder in ihren Beziehungen. <BR /><BR /><b>Es gibt ja weitläufig die Meinung, Autisten seien genial, hochintelligent. Stimmt das?</b><BR />Dr. Arcangeli: Ich würde sagen, dass einer von 4 Autisten hochintelligent ist. Die meisten haben aber doch gravierende Einschränkungen im Alltag und sind nicht autonom. Studien sagen, dass es in Europa 5 Millionen Autisten gibt, aber nur 10 Prozent von ihnen können ein völlig autonomes Leben führen – in einer eigenen Wohnung und mit einer Arbeit. Eine Familie gehört nicht immer dazu. Im Bereich Autismus ist die Schaffung von Dörfern, in denen Autisten sich wohl fühlen können, ein großes Thema. Die meisten brauchen Unterstützung, aber nicht so viel wie andere Menschen mit Beeinträchtigung. Aber dieses Thema ist eben auch schwierig – einerseits hat jede Familie andere Bedürfnisse, andereseits gibt es zumindest bei uns auch keine Erhebung dazu. <BR /><b><BR />Was macht die öffentliche Hand für Autisten?</b><BR />Dr. Arcangeli: Ich muss sagen, dass Südtirol sehr viel tut, seit 2016 wurden große Investitionen in diesen Bereich gemacht. Allerdings gibt es noch sehr viel zu tun. Ich werde mich – nachdem ich gerade mein 2. Buch über ADHS, also das Aufmerksamkeits- Hyperaktivitäts-Syndrom abgeschlossen habe – verstärkt dem Thema Autismus zuwenden. Autismus muss man kennen, um damit umgehen zu können. Man kann sehr viel falsch machen und es ist sehr schwierig, diesen Familien zu helfen, weil Autisten schwierige Persönlichkeiten sind. Ich bin Ärztin, mein Anliegen ist es, den Menschen zu helfen. <BR />