Hier das ausführliche Interview. <BR /><BR /><b>Nach fast 2 Jahren Pandemie – worunter leiden Jugendliche am meisten?</b><BR />Martin Fronthaler: Die Jugendlichen leiden unter den fehlenden bzw. stark reduzierten Übungsmöglichkeiten sozialer Kontakte, sozialer Interaktionen. Junge Erwachsene, die wir im Therapiezentrum behandeln, berichten, dass die sozialen Kontakte vermehrt und viel über Spielkonsolen, Internet und PC gehen – mit der Unsitte, dass ein zwischenmenschlicher Kontakt, sobald er problematisch wird, einfach gestoppt wird. Wenn ich mit diesem Kontakt aber in der Klasse sitze, muss ich schauen, wie ich die ins Wanken geratene Beziehung saniere oder den Konflikt aushalten. <BR /><b><BR />Der Heranwachsende verlernt also das Streiten?</b><BR />Fronthaler: Die Streitkultur insgesamt hat sich sehr verschlechtert. Am PC ist der natürliche Rahmen, in der ich in eine Beziehungsgestaltung, Beziehungsarbeit einsteigen muss, nicht mehr gegeben. Dauert das 2 Jahre, ist es gut möglich, dass ein junger Mensch seine sozialen Kompetenzen verliert. Zudem hat sich die Gesellschaft generell verhärtet. Die erste Phase der Pandemie war geprägt vom Zusammenhalt, jetzt ist das Denken „ich schaue auf mich„ mehr geworden.<BR /><BR />J<b>üngst machten Übergriffe von Jugendlichen Schlagzeilen. Sind das Hilferufe, dass sie mit der Situation nicht klar kommen?</b><BR />Fronthaler: Hinter Gewalt muss nicht immer ein psychologisches Thema stehen. Es ist aber sicher ein Appell an die Gesellschaft, wenn Menschen im Umgang mit zugespitzten Situationen ihre Emotionen in Aggression umlenken. Es hat sicher damit zu tun, dass aktuell vielen Menschen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, was den Glauben an die Zukunft anbelangt. Das ständige Gefühl des Zuwartens, wie es weitergeht, die Frage, welche Regeln ich einhalten, welche ich brechen soll: Die Gesellschaft ist verängstigt. Und wenn Angst umgeht, haben Menschen mit einem aggressiveren Potential leichteres Spiel. <BR /><BR /><b>Auch Populisten?</b><BR />Fronthaler: Ja, das Anheizen von Gewaltbereitschaft ist zurzeit eine häufige Haltung. Je verunsicherter eine Gesellschaft ist, umso leichter ist es zu polemisieren. In vielen Fällen geht es gar nicht um einen Inhalt in der Diskussion, sondern darum zu zeigen: Ich habe eine Wortgewalt, mit der ich vieles niederschmettern kann.<BR /><BR /><b>Zurück zu den Jugendlichen – auf welches Warnsignal sollten Eltern unbedingt reagieren?</b><BR />Fronthaler: Das ist die Schwierigkeit. Viele dieser Dynamiken spielen sich außerhalb des Elternhauses ab. Es liegt im Prinzip eines jungen Erwachsenen, dass er sich aus dem System der Kernfamilie löst, sich in der Peergroup, im sozialen Umfeld der Schule, des Vereins profilieren muss. Er steigt in eine neue Rolle. Die Einflussmöglichkeit der Eltern ist oft sehr mäßig. Es genügen einzelne dominante Personen, um das Wertesystem eines jungen Menschen zu verändern. Es sind eher die Erwachsenen, die dann in die psychotherapeutische Beratung kommen und fragen, was sie tun können.<BR /><b><BR />Und was können sie tun?</b><BR />Fronthaler: Das hängt davon ab, wie in Vergangenheit die Kind-Eltern-Beziehung gelaufen ist. Wenn es gelungen ist, eine Beziehung des Austausches aufzubauen, wird auch im Moment des Abkapselns ein Austausch machbar sein. Wichtig ist, das Gespräch zu suchen, die offene Hand auszustrecken: ohne Druck, ohne Maßnahmen der schwarzen Pädagogik, wie Liebesentzug, Drohen oder Strafen. <BR /><BR /><b>Was kann, muss die Gesellschaft tun?</b><BR />Fronthaler: Es ist immens wichtig, dass die Gesellschaft als solche sensibilisiert wird, das Wertesystem hochzuhalten, dass Schulen den sozialen Umgang, die Kommunikation aufrecht halten, dass die Medien eine Kultur des Austausches bewerben, getragen von der Idee der freien Meinungsäußerung. Es wird nicht innerhalb kurzer Zeit auf diese Phänomene reagiert werden können. Die Gesellschaft wird aber in den nächsten Jahren darauf reagieren müssen. Auch dieser viel zitierten Spaltung der Gesellschaft, die in meinen Augen in gewissen Bereichen nur mäßig ist, darf nicht zu viel Gewicht gegeben werden. Ja, es gibt Familien, in denen gestritten wird, es gibt aber auch viele mit einer klaren Meinung, die außerhalb von Polemiken debattieren und diskutieren können.<BR /><BR /><b>Kann der Verlust sozialer Kompetenzen rückgängig gemacht werden?</b><BR />Fronthaler: Wenn es nach Abklingen der Pandemie wieder gängiger wird, Beziehungskonflikte unter 4 Augen zu klären, in Gruppen zusammenzukommen, dann wird sich das wieder korrigieren. Die Gesellschaft wird wieder zurückfinden dazu, junge Menschen in Vereinen, in Gruppen zu führen. Auch bei Ausgeh-Situationen wird es wieder die Möglichkeit geben, sich im Austausch von Emotionen zu üben. Meine Botschaft wäre, je schneller wir alle an einem Strang ziehen, umso schneller werden wir wieder mehr Freiheit haben, in der man sich ohne schlechtes Gewissen treffen kann. <BR /><BR /><b>Werden im Therapiezentrum Bad Bachgart aktuell viele junge Menschen betreut?</b><BR />Fronthaler: Die Tendenz ist, dass mehr junge Menschen in die psychotherapeutische Behandlung drängen. Das ist einerseits eine positive Entwicklung. Psychische Probleme werden enttabuisiert. Die Kehrseite ist, dass mittlerweile viele so in Bedrängnis geraten, dass sie eine Hilfe brauchen. In der Pandemie hat sich diese Psychologisierung verstärkt. Wir achten mehr darauf, wie es uns geht, und das ist gut so. Der Nachteil kann sein, dass ich so sehr auf mein eigenes Wohl fokussiert bin und das Wohl der Gemeinschaft hintanstelle. Das besorgt mich.<BR /><BR /><b>Wie erklären sich die letzthin gehäuften Suizide?</b><BR />Fronthaler: Sie sind vor allem zu erklären dadurch, dass der Druck auf den Einzelnen aktuell massiv gegeben ist. Wenn jemand schon einen Zweifel an sich hat, an der Sinnhaftigkeit und Qualität seines Lebens, sich über die Aufgaben, die anstehen, nicht mehr hinaussieht, dann ist eine aktuell so verunsicherte Zeit ein Nährboden für Angst und Suizidgedanken. Umso wichtiger ist eine Kultur, in der man darüber reden kann, irgendwo deponieren kann „bitte helft mir“, ohne sich mit einem Schamgefühl auseinandersetzen zu müssen. Es ist auch ein Qualitätsmerkmal einer funktionierenden Gesellschaft, sich in einer Krise Hilfe holen zu können. In Südtirol ist ein breit gefächertes Netzwerk zur Suizidprävention tätig, das viele Hilfsangebote für Menschen in seelischer Not bietet.<BR /><BR />