<b>Frau Thurnwalder, Sie sind Solidaritätspreisträgerin. Wie klingt das?</b><BR />Rebecca Thurnwalder: Das kam für mich extrem überraschend, völlig unerwartet. Meine erste Reaktion: Wieso ich? Ich hab’ doch nichts vorzuweisen. Was ich mache, ist eine Selbstverständlichkeit. <BR /><BR /><b>Sie sind eine äußerst engagierte Jugendarbeiterin, seit 15 Jahren im Vorstand des Jugenddienstes, sehr aktiv in der Pfarre Maria Himmelfahrt. All das haben Sie sogar schriftlich. Man sagt von Ihnen, dass Sie regelrecht ein Gespür dafür haben, wo es Hilfe braucht?</b><BR />Thurnwalder: Angefangen habe ich Mitte der 1990er Jahre mit Hüttenlagern in Grissian. Ja, ich sehe, wo ein Loch ist, spüre, wo es etwas braucht und versuche etwas zu tun, diese Löcher zu stopfen. Ich kann aber auch schwer Nein sagen (lacht). Es es ist sehr schön mit den Kindern ,a bissl‘ Kindsein zu dürfen.<BR /><BR /><b>Haben Ihre besonders feinen Antennen mit Ihrer Kindheit zu tun?</b><BR />Thurnwalder: Das rührt sicher von meiner Kindheit her, die hat mich geprägt. <BR /><BR /><b>Sie machen keinen Hehl daraus, dass Sie ein Kinderdorf-Kind waren. Wie kam es dazu?</b><BR />Thurnwalder: Meine Mutter war schwere Alkoholikerin, meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Ich weiß gar nicht, wer mein Vater ist. Ich wurde in Rovereto geboren, weil meine Mama zu der Zeit im Trentino war. Nach der Geburt kam ich als Baby zu meiner Pflegefamilie, zur Familie Höller, nach Jenesien. Dort hatte ich meine „Mamme“ und meinen „Tatte“. Für mich war das meine Familie. Deren Kinder waren schon groß und ich wuchs – neben einem weiteren, schon größeren Pflegekind – fast wie ein Einzelkind auf. Ich dachte die längste Zeit, dass das meine richtige Familie ist.<BR /><BR /><b>Aber...</b><BR />Thurnwalder: Als ich 8 Jahre alt war, wollte mich meine Mutter, meine Mama, zurückhaben. Das ist eine meiner schlimmsten Erinnerungen, wie mich mein „Tatte“ zum Jenesier ,Bahnl‘ begleitet hat, mit dem ich hinunter zu meiner Mama fahren musste. Ich erinnere mich als wär es gestern gewesen: Die Schlaufen des Koffers mit meinen Habseligkeiten hatte er an einem Stock eingefädelt und so trug er ihn auf seinen Schultern. Und damit begann meine schlimmste Zeit.<BR /><BR /><b>Und zwar?</b><BR />Thurnwalder: Das Leben mit meiner Mama und ihrem Mann war geprägt von Streit und Gewalt, denn beide tranken. Die Sozialdienste schritten ein, ich kam ins Kofler-Heim in der Vintlerstraße. So viel Rosenkranz gebetet wie damals habe ich nie wieder. Im Sommer kam ich immer wieder zu Familien. Eine Familie wollte mich sogar unbedingt haben.<BR /><BR /><b>Aber?</b><BR />Thurnwalder: Die wollten, dass ich nicht mehr Rebecca sondern Roberta heiße, dass jeder Kontakt zur Ursprungsfamilie unterbrochen wird. Sie hatten auch ein Fahrrad für mich im Keller. Das sollte ich bekommen, wenn ich brav wäre – in der Schule und überhaupt. Bekommen habe ich es nie. Wie sollte ich mich in der Schule auch konzentrieren mit so vielen Sorgen im Kopf. In so einer Situation, musst du schauen, dass du schwimmst, dass du dich über Wasser halten kannst.<BR /><BR /><b> Warum kamen Sie ins Kinderdorf?</b><BR />Thurnwalder: Als ich 13 Jahre alt war, ist meine Mama 50-jährig im Kleinen Montiggler See ertrunken. Zunächst war ich völlig apathisch. Ich war Vollwaise, das war für mich fast wie ein Freibrief. So kam ich ins Kinderdorf zur „Mutti“, eine phantastische Frau. Wir waren zu acht im Haus, ich war die Große, zwischendurch war auch immer wieder ein ,Poppele‘ bei uns. Ich spürte endlich Familie, es war wie Heimkommen. Eine Vaterfigur hatte ich ja nie gekannt, deswegen habe ich sie auch nicht vermissen können. Ich hatte endlich mein ,Platzl‘, mein Bett, alles war sauber, geordnet. Eine schöne Zeit. Ich bin dort geblieben, bis ich 18 war. Habe die Frauenfachschule in Tschötsch besucht und dann die Frauenoberschule in Meran. Die habe ich dann aber geschmissen.<BR /><BR /><b>Wieso?</b><BR />Thurnwalder: Ich wollte die Welt entdecken, die Männer, und ich musste auch die Gefahren entdecken, die draußen lauerten. Ich habe meinen Ex-Mann kennengelernt und habe mit 20 meine Tochter bekommen. Ich habe sogar geheiratet. Ich wollte eine Familie haben, alles besser machen wie meine Mama, ich wollte es schaffen. So bin ich in eine Beziehung hineingeschlittert, mein Ex-Mann hatte mit sich selbst zu kämpfen – ich musste einiges nochmals erleben, nur eben mit umgekehrten Vorzeichen. Das mit Männern sollte nicht sein, aber ich habe 2 glückliche Kinder, die mir alles bedeuten.<BR /><BR /><b>Sie wissen nicht, wer Ihr Vater ist. Wollten Sie nie wissen, wer er ist?</b><BR />Thurnwalder: Doch, ich hätte ihn gerne kennengelernt, einfach um zu wissen, woher ich komme, woher ich bin. Aber meine Mama habe ich nie gefragt, sie wäre auch nicht darauf eingegangen. Ich lebe prinzipiell aus der Erinnerung.<BR /><BR /><b>Das heißt?</b><BR />Thurnwalder: Ich habe keine Fotos von meiner Kindheit. Es gibt nur ein einziges Foto, auf dem mein „Tatte“ und ich seitlich zu sehen sind. Darauf glaube ich schon zu sehen, dass er mich mochte. Mit ihm durfte ich im Dorfgasthaus Spuma aus einem Weinglasl trinken. Zu meinem 50. Geburtstag habe ich „Mamme“ und „Tatte“ in Jenesien am Friedhof besucht.<BR /><BR /><b>Wenn Sie jetzt an Ihre Mama denken, was geht Ihnen durch den Kopf?</b><BR />Thurnwalder: Ich bin im Frieden mit dem, was ich erlebt habe. Meine Mama hat mich auf die Welt gebracht, sie hat getan, was sie konnte. Niemand kann sich aussuchen, wo er hineingeboren wird, aber man kann sich selbst auf den Weg machen. Ich habe die Gabe, das Gute mitzunehmen. Aus Steinen, die auf dem eigenen Weg liegen, lässt sich auch etwas Schönes machen. Ich bin ein harmoniebedürftiger Mensch, ich habe meine Heimat gefunden – auch beim Jugenddienst. Ich erlebe Freundschaft und Wertschätzung. <BR /><BR /><b>Apropos Jugenddienst: Ein besonderes Anliegen ist Ihnen das Projekt „Work up“, das jungen Menschen ohne Ausbildung oder Lehre helfen soll, in die Arbeitswelt hineinzufinden. Warum ist Ihnen das so wichtig?</b><BR />Thurnwalder: Weil es für Jugendliche mit Schwierigkeiten noch viel schwieriger ist, ihren Platz im Leben zu finden. Dabei tragen sie schon so viel mit sich herum. Sie müssen angenommen werden, wie sie sind. Wir müssen sie spüren lassen, dass sie wertvoll und wichtig sind. Wir müssen Zeit haben und ihnen genau „zuelosn“, versuchen, sie zu verstehen.<BR /><BR /><b>Wichtig ist Ihnen nach wie vor das Kinderdorf... </b><BR />Thurnwalder: Ich habe so schöne Erinnerungen – an megatolle Sommer am Fennberg. Und ich erinnere mich noch so gut, wie ich mit meiner Mutti erstmals in ein Geschäft gehen durfte, um mir eine bauchfreie Sommerbluse auszusuchen. Sonst haben wir unser Gewand immer aus dem Magazin bekommen, gebrauchte Kleider, die abgegeben wurden. Deswegen möchte ich etwas von meinem Preis, den ich nicht für mich behalte, ans Kinderdorf zurückgeben. <BR /><BR /><b>Andere Erinnerungen?</b><BR />Thurnwalder: Weihnachten habe ich so gut in Erinnerung. Denn in Problemfamilien sind besondere Tage Problemtage. Im Kinderdorf bekamen wir einen wunderschönen Baum, für jedes Ästchen gab es mega viel Lametta (lacht). Und an Weihnachten durften wir uns eine Sache aussuchen. Ich hatte mir ein Lexikon gewünscht. Ich erinnere mich auch noch an die Ausflüge im „Südtiroler Kinderdorf“-Bus mit seiner großen Aufschrift. Manche Kinder haben sich im Bus geduckt, weil sie sich geschämt haben, weil es hieß: „die armen Hascherlen“. Ich saß immer aufrecht da und hab’ neugierig hinausgeschaut – deswegen braucht sich doch niemand zu schämen. <BR /><BR /><b>Abgesehen von Ihrer Mama und Ihrer „Mamme“ lebt Ihre „Mutti“ noch?</b><BR />Thurnwalder: Nein, alle 3 sind schon gestorben. Aber sie schauen auf mich herunter, da bin ich mir sicher. Sie sind ,a bissl‘ wie ein Schutzmantel für mich.