Am 16. September 1943 wurden die Juden in Südtirol deportiert. Laut der Historikerin <b>Cinzia Villani</b> waren es hierzulande 42 Juden. 22 in Meran und 9 in Bozen. Die anderen Mitglieder der Meraner jüdischen Kultusgemeinde waren nach 1938 ins Trentino oder andere Gebiete Italiens gezogen bzw. geflohen und wurden dort verhaftet – rund 200 Opfer insgesamt.<BR /><BR />Was die Zukunft anbelangt, bin ich sehr besorgt. Immer noch gibt es so viel Antisemitismus, Hass, Lügen und Vorurteile gegen Israel. Man kann den Holocaust in keinen Vergleich stellen, einerseits wegen der Anzahl an getöteten Juden und anderseits weil Deutschland generalstabsmäßig organisiert war, um unsere Gemeinschaft auszurotten. <BR /><BR />Züge nach Ausschwitz etwa waren immer noch aktiv, als Deutschland kurz vor dem Ende stand. Andere Massaker in der Menschheitsgeschichte kann man erklären, das kann man nicht erklären. Mittel, Menschen, Geld, Zeit, Politik etc. wurden gezielt dafür eingesetzt, Menschen umzubringen“, erklärt Federico Steinhaus. 40 Jahre lang stand er der Jüdischen Gemeinde in Südtirol vor.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="940444_image" /></div> <BR /><BR /> Hierzulande wurde viel Aufklärung betrieben auch durch die Aktion Stolpersteine. „In Südtirol sind wir als Kultusgemeinde anerkannt.“<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="940447_image" /></div> <BR /><h3> EXODUS</h3>Nach Hitlers Machtübernahme sind Juden nach Südtirol geflüchtet, da die Rassengesetze in Italien noch nicht eingeführt worden waren. <BR />Federico Steinhaus: Bis 1938 gab es in Italien noch keine antijüdischen Gesetze, Mussolini hat die Juden vor der Deportation und anderen Maßnahmen noch geschützt. Juden aus Europa kamen nach Südtirol, da sie sich hier sicher fühlten, hier konnten sie deutsch sprechen, das Land war ihr kulturelles Milieu. Wie sie nach Südtirol „auswanderten“, ist nicht belegt. <h3> STARTSCHUSS</h3>Schon 1936 gab es die erste antijüdische Verordnung. Am 17. November 1938 erließ Mussolini dann die Gesetze „Zur Verteidigung der Rasse“ und gab damit den Startschuss zur Verfolgung der italienischen Juden. <BR /><BR /><b>Steinhaus:</b> Schon im September hat Mussolini eine Volkszählung der Juden in Italien verordnet. Im Archiv der jüdischen Kultusgemeinschaft in Meran sind damals effektiv knapp 1000 Juden dokumentiert – sowohl in Meran als auch in Bozen, Brixen, Sterzing und im Trentino. Diese Volkszählung diente als Grundlage für alle weiteren Maßnahmen.<BR /><h3> DEPORTATION</h3>16. September 1943: Männer des „Südtiroler Ordnungsdienstes“ (SOD), der SS und der Gestapo – zwischen 3500 und 5000 Südtiroler dienten der Waffen-SS – lassen Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Meran in das GIL-Gebäude einsperren und danach ins Konzentrationslager Reichenau und später nach Ausschwitz deportieren… <BR /><BR /><b>Steinhaus:</b> Der Großteil der Juden damals waren entweder Ausländer oder staatenlos oder hatten die italienische Staatsbürgerschaft nach 1919 erhalten. Diese wurde ihnen aberkannt, und sie wurden als Erste ausgewiesen ab Ende 1938 bis Mitte 1939. Danach lebten noch Juden in Südtirol, die nicht ausgewiesen worden waren, solche, die glaubten, sie hätten sich gut versteckt, oder solche, die sich in Sicherheit fühlten, wie etwa Frau <b>De Salvo</b>: Sie war mit einem italienischen Polizisten verheiratet. Doch auch sie wurde mit ihrer Tochter deportiert. Eine andere Frau, die mit einem gewissen Herrn <b>Zadra</b> aus dem Nonstal verheiratet war, versteckte sich mit ihm dort, wurde aber von ihm angezeigt. Nach und nach wurden auch die Juden deportiert, die am 16. September nicht gefunden wurden, zum Teil weil die Betroffenen von Mitbürgern angezeigt wurden.<h3> Südtirols Deportierte</h3>In <Fett>Bozen</Fett> verhaftet: Adalgisa Ascoli, Alberto Carpi, Germana Carpi, Olimpia Carpi, Renzo Carpi, Lucia Rimini Carpi, Otto Heller, Wilhelm Alexander Loew Cadonna, Ada Tedesco. In <Fett>Altrei</Fett> verhaftet: Ferdinand Fechter, Ida Kaufmann. In <Fett>Glurns</Fett> verhaftet: Giovanna Wolf Gregory. In <Fett>Meran</Fett> verhaftet: Ludwig Balog, Gertrude Benjamin, Alfred Bermann, Wilhelm Breuer, Aldo Castelletti, Elena De Salvo, Jenni Dienstfertig Vogel, Meta Benjamin-Sarason, Josefine Freund Balog, Regina Gentilli, John Gittermann, Moritz Götz, Abraham Hammer, Josef Honig, Walli Knapp Hofmann (sie überlebte als einzige), Taube Kurz Hammer, Emil Löwy, Siegfried Löwy, Therese Reich, Katharina Robitschek Breuer, Emma Saphier Götz, Francesca De Salvo Stern, Ernestine Vogel, Charlotte Zipper. Am <Fett>Ritten</Fett> verhaftet: Ruth Rosa Eckstein, Ilse Kornblum Eckstein.<BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-61289155_gallery" /><h3> <b><BR />ÜBERLEBENDE</b></h3>Von der gesamten Meraner Gruppe überlebte nur – im KZ Ravensbrück – <b>Walli Hoffmann</b>. Sie starb im Mai 1964 im Alter von 60 Jahren.<BR /><BR /><b>Steinhaus:</b> Walli Hoffmann ist die einzige Deportierte, die nach Südtirol zurückgekommen ist, weil sie Staatsbürgerin von Liechtenstein war. Laut polizeilichem Protokoll, das in unserem Museum verwahrt wird, hat sie bei ihrer Rückkehr versucht, ihr Eigentum bei verschiedenen Meraner Familien zurückzuverlangen. An diesem Beispiel erkennen wir, wie wichtig neben den religiösen die wirtschaftlichen Hintergründe der Verfolgung von Juden waren: Man konnte sich von Konkurrenten befreien, man konnte die jüdischen Häuser plündern und besetzen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="940450_image" /></div> <h3> RESTITUTIONSMASSNAHMEN</h3>Erfolgten in Anerkennung einer moralischen Mitverantwortung für das Leid, das den Menschen durch den Nationalsozialismus zugefügt wurde, finanzielle Zuwendungen durch den Staat?<BR /><BR /><b>Steinhaus:</b> In Deutschland schon, in Österreich und Italien kaum. Südtirol folgte den Richtlinien des italienischen Staates, 50 Jahre lang hat das Land seinen Anteil an der Geschichte geleugnet. In Italien konnte die Union der jüdischen Kultusgemeinde trotz größter Schwierigkeiten ein Gesetz zu Restitutionsmaßnahmen veranlassen; aufgrund der immensen Hindernisse haben die Überlebenden kaum etwas zurückerstattet bekommen. Nach Jahren wurde das Gesetz zwar abgeändert – es sah für verfolgte Juden eine Pension vor – das Recht darauf wurde vielen, u.a. mir selbst, nicht anerkannt, weil ich damals nicht italienischer Staatsbürger war, obwohl meine Familie verfolgt wurde, ich nicht zur Schule gehen durfte, wir uns verstecken mussten... <BR /><BR /><BR /><b>TÄTER</b><BR /><BR />Was passierte mit den Südtiroler Tätern? <BR /><b><BR />Steinhaus:</b> Kaum etwas. Nur einige, die im Bozner Durchgangslager (Anm. d. Red.: Das NS-Durchgangslager Bozen war von Juli 1944 bis zum 3. Mai 1945 in Betrieb. Hier wurden politische Häftlinge und Juden aus anderen Lagern Italiens festgehalten und deportiert) gearbeitet haben, wurden prozessiert, einige wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, die später gestrichen wurden. Von den Juden, die deportiert wurden, ist niemand zurückgekommen, wer hätte die Täter also anzeigen sollen? Ich aber kenne die Täter. Sie lebten ihr Leben ohne Konsequenzen weiter. Nachdem ich alle Protokolle, Dokumente und Aufzeichnungen über die Ereignisse in den Archiven der jüdischen Kultusgemeinde durchgelesen hatte, habe ich das Buch „Ebrei/Juden“ geschrieben, um darauf aufmerksam zu machen. Daraufhin wurde ich angezeigt…<h3> AUFARBEITUNG</h3>Nach dem Krieg galt das „nur net rogln“ – bezogen auf die Optionsjahre – von Landeshauptmann Magnago als atmosphärische Maxime, als Leitlinie der Gesellschaft, auch was die Aufarbeitung der Juden-Deportation anbelangt? <BR /><b><BR />Steinhaus:</b> Denken Sie nur daran, wie lange es gedauert hat, bis Josef Mayr Nusser als Südtiroler Leitfigur des Widerstands gegen die NS-Unrechtsherrschaft als Märtyrer seliggesprochen wurde (Anm.: 2017). Solche Begebenheiten sind bezeichnend. In den 1970er Jahren kam einmal ein <b>Bauer aus Marling</b> zu mir, der – von seinen Freunden als Nazigegner angezeigt – verfolgt wurde. Ich habe ihn ermutigt, davon zu erzählen, man soll wissen, dass es damals auch deutschsprachige Bürger gab, die gegen die Nazis waren. Er wollte es aber nicht, er sagte: „Ich muss in Marling weiterleben.“ Eine Aufarbeitung der Geschichte ist sehr mühsam und problematisch: Auch wenn Täter und Opfer mittlerweile fast alle gestorben sind, finden sich immer wieder neue Fakten, Daten und Aufzeichnungen. In Deutschland wurde von der Regierung viel Wiedergutmachungspolitik betrieben, in Österreich und Italien kaum. Viele Juden wurden von den Nazis an Deutschland ausgeliefert, sie bekamen die Polizeilisten von den Italienern zugespielt. <h3> <b><BR />ANTISEMITISMUS IN SÜDTIROL</b></h3>Und heute?<BR /><b>Steinhaus:</b> In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg durfte man das Thema Antisemitismus in Südtirol kaum erwähnen. Damals gab es sowohl öffentliche als auch private Fälle von Antisemitismus. Die Betroffenen erzählten mir davon: Ein <b>jüdisches Paar aus Amerika</b> wurde in einem Meraner Hotel vom Kellner mit den Worten angesprochen: „Euch hat man vergessen!“ Ein Taxifahrer hat einer jüdischen Frau aus Wien mit den Worten „Juden fahre ich nicht!“ die Fahrt verwehrt. Jahre nach dem Holocaust wurde ich persönlich von einem Verkäufer abschätzig angesprochen: „Sie sind ja überhaupt kein Tiroler!“ Ich konnte nur antworten: „Ich bin ein gebürtiger Meraner.“ Solche Vorfälle sind teils nicht ausdrücklich antisemitisch, aber bezeichnend für eine Kultur. <BR /><BR />Das jüdische Museum in Meran trägt sicherlich dazu bei, die Geschichte der Juden besser zu verstehen. Seit seiner Gründung vor 35 Jahren wird es regelmäßig von Schülern besucht. Während einer Besichtigung hat mich einmal eine Professorin gefragt, warum wir nicht mehr über die Deportation sprechen. Ich habe geantwortet: „Wir sprechen ununterbrochen darüber, aber niemand hört uns zu.“<BR /><BR />Antisemitismus ist wieder salonfähig in Europa und auch in Amerika. Warum das so ist, ist schwer erklärbar. Es ist nicht nur ein Problem von religiösen Vorurteilen, sondern Antisemitismus ist tief in der Geschichte verwurzelt, deshalb ist es wichtig, dass es Israel gibt. Heute würde es keine Shoah mehr geben, wenn Juden irgendwo verfolgt werden, dann haben sie ein Zufluchtsland. Aus Frankreich etwa immigrieren Tausende Juden nach Israel, weil sie mit Antisemitismus konfrontiert sind. <h3> KOLLEKTIVE VERANTWORTUNG</h3>In Diktaturen wird der Unmut eines Volkes hin zu wehrlosen und verwundbaren Gruppen gelenkt. So entstehen stillschweigende Komplizenschaften…. <BR /><b>Steinhaus:</b> Juridisch ist die Verantwortung persönlich, der Einzelne trägt die Schuld; die kollektive Schuld besteht darin, dass die Leute stillschweigend weggeschaut haben. Dass Juden nicht beliebt waren und es Antisemitismus gab, wusste jeder, aber dass diese Juden plötzlich verschwunden sind und ihre Häuser geplündert werden durften ohne Konsequenzen, bezeichnet eine Art von kollektiver Mitschuld. Wegschauen ist in jeder Hinsicht eine Schuld, nicht unbedingt juridisch, aber in jedem Falle moralisch. Man muss nicht profitiert haben, allein die Gleichgültigkeit ist kollektive Mitschuld. Sie gehört zur menschlichen Natur, wir haben alle Vorurteile irgendjemandem gegenüber und haben vielleicht schon einmal weggeschaut. <h3> Buchtipps</h3><b>Federico Steinhaus</b><BR />„Ebrei/Juden“<BR />Giuntina, 1994 – „Homeland“<BR />Belforte Salomone, 2023 – <BR />„Una giornata della memoria, 364 giornate dell'indifferenza“, Edition Raeta 2019 <BR /><BR /><b>Lotti Goliger-Steinhaus</b><BR />„Caro Federico“, Edition Raeta 1998 – <BR /><BR /><b>Leopold Bemann</b><BR />„Storia di un ragazzo ebreo“, Edition Raetia 2023 –<BR /><BR /><b>Joachim Innerhofer, Sabine Mayr,</b><BR />„Mörderische Heimat“, Edition Raetia 2015 <BR /><b><BR />Vinzia Villani</b><BR />„Zwischen Rassege- setzen und Deportation“, Universitätsverlag Wagner 2003<BR /><BR /><BR />