Der aus Augsburg stammende Priester Jörg Ernesti ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Uni Augsburg und an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen. Vor kurzem erschien sein Buch über die päpstliche Außen- und Friedensdiplomatie seit 1870.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="756680_image" /></div> <b><BR /><BR />Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Papst Franziskus tatsächlich nach Kiew reist?</b><BR />Jörg Ernesti: Der Papst ist ja vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj eingeladen worden. Am letzten Samstag hat er auf die Frage eines Journalisten, ob er eine solche Reise in Betracht ziehe, geantwortet: „Ja, das liegt auf dem Tisch“. Ich denke, er kann im Moment nichts anderes sagen, wenn er die Ukrainer nicht vor den Kopf stoßen will. Derzeit ist die Wahrscheinlichkeit aber nicht sehr hoch, dass er nach Kiew fährt. <BR /><BR /><b>Was spricht dafür, was dagegen?</b><BR />Ernesti: Dagegen spricht, dass eine Reise nach Kiew von der Weltöffentlichkeit so gedeutet würde, als stehe der Vatikan eindeutig auf der Seite der Ukraine. Die vatikanische Diplomatie legt aber großen Wert auf die eigene Überparteilichkeit. Nur wenn man überparteilich ist, wahrt man die Chancen, als Friedensvermittler ins Spiel zu kommen. Ich schätze den Papst so ein, dass er persönlich schon gerne den Menschen in der Ukraine nahe wäre. Das spricht tatsächlich dafür, dass er die Reise doch noch ins Programm nimmt. Sollte der Konflikt eskalieren und es zu weiteren schlimmen Massakern kommen, wird er fast nicht umhinkommen, sich nach Kiew zu begeben. Sicherheitsbedenken werden ihn dann sicher nicht davon abhalten. <BR /><BR /><b>Bisher hat Franziskus noch nie Russland namentlich für den brutalen Angriffskrieg verurteilt: Warum nennt der Papst hier nicht die Schuldigen?</b><BR />Ernesti: Für die vatikanische Außenpolitik hat es traditionell Priorität, dass man überparteilich bleiben muss, um Zugang zu allen Konfliktparteien zu behalten. Es geht dabei nicht nur um einen möglichen Einsatz für den Frieden, sondern auch um den Schutz von humanitären Aktivitäten in dem betreffenden Land. Seit Beginn des Krieges in Syrien wurde Putin dreimal freundlich im Vatikan empfangen, obwohl jeder von den Kriegsverbrechen der Russen und der mit ihnen verbündeten Syrer wusste. Wenn der Papst den Präsidenten öffentlich verurteilt hätte, hätte er nicht für die syrischen Christen und für die Arbeit der Hilfsorganisationen eintreten können. Es wäre leichter, Klartext zu sprechen – aber damit ist den konkreten Menschen nicht immer geholfen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-53722065_quote" /><BR /><BR /><b><BR />Wie schätzen Sie das Gespräch des Papstes mit dem Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche ein, dem wichtigsten Unterstützer Präsident Putins?</b><BR />Ernesti: Papst Franziskus folgt dem Beispiel des polnischen Papstes, wenn er immer wieder Menschen verschiedenen Glaubens daran erinnert, dass die Religionen eine besondere Verantwortung für den Weltfrieden haben. So ist auch ist die Einladung an den Patriarchen Kyrill zu verstehen.<BR /><BR /><b>Und hat der Papst damit Erfolg gehabt?</b><BR />Ernesti: Viele Kommentatoren haben geschrieben, der Papst sei gescheitert. Sein Gesprächspartner habe er nicht einmal den Krieg klar verurteilt oder von der Unterstützung Putins Abstand genommen. Ich sehe das anders. Der Patriarch hat sich im Nachhinein bedankt, dass der Gesprächsfaden nicht abgerissen ist und dass der Papst ihn nicht verurteilt hat. Und er hat ein weiteres Treffen der beiden Kirchenführer angekündigt. Es wäre erst das zweite Treffen eines russisch-orthodoxen Patriarchen mit einem Papst in der Geschichte. Man darf nicht unterschätzen, dass Kyrill einen großen Einfluss auf Putin hat. Hier liegt einer der Schlüssel zum Frieden.<BR /><BR /><b>Sie haben kürzlich ein Buch über die Außenpolitik und die Friedensbemühungen des Vatikan seit 1870 geschrieben: Viele haben den Eindruck, dass die Päpste da herzlich wenig bewirken konnten. Stimmt das?</b><BR />Ernesti: Dass der Heilige Stuhl als Friedensvermittler auftritt, ist noch keine so alte Tradition. Bis zum Untergang des alten Kirchenstaates im Jahr 1870 stand das gar nicht auf der Tagesordnung. Seitdem aber haben die Päpste immer wieder zwischen Konfliktparteien vermittelt und zugleich die eigene Rolle als überparteilicher Schiedsrichter profiliert. Heute gehört es zum Selbstverständnis der Päpste, zum Frieden in der Welt beizutragen. Insgesamt ist die Bilanz allerdings gemischt. Ich persönlich denke: Jeder internationale Konflikt, der geschlichtet, und jeder Krieg, der vermieden wird, ist die Anstrengung wert.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="756683_image" /></div> <BR /><BR /><BR /><b>Wo konnte der Vatikan tatsächlich Konflikte beenden?</b><BR />Ernesti: Das erste Beispiel ist ein Konflikt zwischen Spanien und Deutschland um eine Inselgruppe im Pazifik. Der Heilige Stuhl konnte hier 1885 einen Schiedsspruch vorlegen, der von beiden Staaten akzeptiert wurde. Das jüngste Beispiel ist die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Kuba und den USA im Jahr 2014. Nachdem die vatikanischen Diplomaten im Vorfeld die Fühler ausgestreckt hatten, hat Papst Franziskus bei den Präsidenten Obama und Raul Castro angefragt, ob sie zu geheimen Gesprächen im Vatikan bereit sind. Und die hatten tatsächlich Erfolg.<BR /><BR /><b>Und wo sind die Bemühungen um Frieden gescheitert?</b><BR />Ernesti: Zu Beginn der beiden Weltkriege hat die vatikanische Diplomatie versucht, Italien aus dem Krieg herauszuhalten. Der Friedenspapst Benedikt XV. scheiterte 1917 mit seinem Friedensvorschlag. Pius XII. kam im Zweiten Weltkrieg erst gar nicht ins Spiel, weil weder Mussolini noch Hitler Interesse an einer päpstlichen Intervention hatten. Weniger bekannt ist, dass Paul VI. im Vietnamkrieg vermitteln wollte, aber nicht einmal den Amerikanern eine solche Einmischung recht war.<BR /><BR /><b>Wie schätzen Sie die Chancen der vatikanischen Diplomatie im Ukraine-Krieg ein?</b><BR />Ernesti: Ich habe ja versucht, in meinem Buch den Einsatz der Päpste für den Weltfrieden nachzuzeichnen. Vor diesem Hintergrund bin ich selbst überrascht, wie aktiv die vatikanische Diplomatie im Moment ist. Da ist von der bisherigen diplomatischen Zurückhaltung kaum etwas zu spüren. Der Papst wirft seine persönliche Glaubwürdigkeit in die Waagschale, und sein Wort wird sicher respektiert. Allerdings muss man ganz nüchtern sehen, dass er Oberhaupt der religiösen Minderheit der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine ist, die während des Kommunismus unterdrückt wurde (übrigens auch von den Orthodoxen!). Eine Friedensvermittlung wird es also nicht gegen den Willen der Orthodoxie geben können. Insofern ist es schon klug, dass Franziskus genau hier das Gespräch gesucht hat.<BR /><BR />BUCHTIPP<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="756686_image" /></div> <BR /><BR /> Jörg Ernesti, Friedensmacht. Die vatikanische Außenpolitik seit 1870. 368 Seiten, Verlag Herder, 2022. ca. 38 Euro. Erhältlich bei www.athesiabuch.it<BR />