Wir erreichen Kammerlander telefonisch in Sardinien, wo er nach Expeditionen nach Bhutan, Indien und Nepal zur Ruhe kommt. Im Urlaub hat ihn die vermeintliche Weltsensation erreicht – und für reichlich Gesprächsstoff gesorgt.<BR /><BR />„Ich war ziemlich enttäuscht und habe mich deshalb auch gar nicht dazu geäußert “, sagt er. Zahlreiche Freunde hätten ihn angerufen – auch sie irritiert über die plötzliche Aufmerksamkeit für eine Leistung, die längst erbracht wurde. Denn: Es war Kammerlander selbst, dem diese außergewöhnliche Abfahrt 1996 als erstem Menschen gelang – und auch damals wurde weltweit darüber berichtet.<BR /><BR />Wie kann es also sein, dass 29 Jahre später dieselbe Meldung erneut als bahnbrechend gilt? „Es ist schade, wie solche vermeintlichen Erfolge aufgebauscht werden. Der Pole – gesponsert von Red Bull – hatte nicht nur ein eigenes 8-köpfiges Team inklusive Psychotherapeut, sondern auch eine Gruppe Sherpa zur Hilfe, die Fixseile gesetzt haben. Das ist ein unglaublicher Vorteil, vor allem bei der Abfahrt, wenn man weiß: Da und dort ist ein Rettungsanker in Sicht.“<h3> „Das ist reinster Expeditionstourismus“</h3>Auch die Zeitangaben wurden als absolute Spitzenleistung verkauft – für Kammerlander unverständlich: „Von seinem letzten Camp auf 8000 Meter bis zum Gipfel hat er 16 Stunden gebraucht. Und vorher war er bereits drei Tage für den Aufstieg unterwegs. Für die Abfahrt noch einmal 10 Stunden. Das ist nicht als Spitzenleistung zu deklarieren.“<BR />Für Kammerlander steht fest: Die Umsetzung der Tour hat mit echtem Alpinismus nichts zu tun. Im Gegenteil: „Wie die Gipfeltour mit anschließender Abfahrt im Fall des Polen umgesetzt wurde, ist reinster Expeditionstourismus. Solche Sensationsmeldungen machen den großen Alpinismus kaputt und verwässern wahre Leistungen komplett. Ich möchte niemandem Erfolge absprechen, aber das ist keine Weltsensation, für die sie verkauft wurde – sondern ein Flickenteppich aus Übertreibung und aggressiver Berichterstattung, die wirklich große Leistungen klein macht.“<BR /><BR />Seine eigene zum Beispiel: Kammerlander schildert uns, wie seine Everest-Besteigung mit anschließender Abfahrt damals verlief – und es wird sofort klar: Das hatte mit der aktuellen Schlagzeile nichts gemein. Gänsehaut stellt sich ein, wenn man ihm zuhört.<h3> Über den Nordsattel und den Nordostgrat auf den Gipfel des Mount Everest</h3>„Es war ein lang gehegter Traum, diese Tour zu machen – und am 24.Mai 1996 war es dann soweit.“ Nordseite des Mount Everest, Tibet, 17 Uhr am Nachmittag: Ein waghalsiges Unternehmen beginnt – ohne zusätzlichen Sauerstoff, ohne Sherpas, ohne Fixseile. Der Aufstieg – mit den Skiern am Rücken – startet vom vorgeschobenen Basislager auf 6.400 Metern am Rongbuk-Gletscher. Ein dreiköpfiges ORF-Filmteam begleitet ihn bis auf 7.000 Meter. Den Rest des Weges geht Kammerlander allein – durch die Nacht, auf sich gestellt. Nach 16 Stunden und 40 Minuten erreicht er gegen 9.30 Uhr morgens den Gipfel des Mount Everest – ein schneller Aufstieg, sogar schneller als geplant. Ein Glück, denn dadurch blieb ihm genug Zeit für die Abfahrt. Ohne Druck, aber mit höchster Konzentration.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1222773_image" /></div> <BR /><BR />Der schwierigste Moment kam nach den Gipfelfotos mit Selbstauslöser: Die Steigeisen ablegen, die Skier anschnallen – und losfahren. Ohne Fixpunkte, ohne Sicherung, auf der brutal steilen Nordflanke des Everest. Und er weiß: Diese Abfahrt könnte seine letzte sein. <BR /><BR />Wie überwindet man sich mental, auf über 8.000 Metern die Skier über diese Wahnsinnskante zu kippen? „Ich hatte lange und gezielt auf dieses Vorhaben hintrainiert – körperlich wie mental. Ich befuhr extrem steile Rinnen und Wände in den Zillertaler Alpen und den Dolomiten. Zur Akklimatisierung bestieg ich die Shishapangma in Tibet – mit 8.027 Metern der niedrigste aller Achttausender, ideal zur Vorbereitung. Teile davon bin ich mit Skiern abgefahren. Davor war ich noch in Nepal zum Trekking, um Motivation zu tanken. Alles folgte einem klaren Plan. Die Taktik war perfekt – Stufe für Stufe in Richtung Everest.“ Im Basislager herrschte vier Tage lang Sturm – Kammerlander musste warten. Rückblickend war das gut: Er konnte sich erholen. Sein Rucksack wog gerade einmal fünf Kilogramm – inklusive Skier. Die Devise: maximale Schnelligkeit bei minimaler Last.<BR /><BR />„Alle Faktoren haben perfekt zusammengepasst. Natürlich war der Moment sehr schwierig, aber das nötige Selbstbewusstsein war da – und der Rest war die Leidenschaft, die das Unmögliche möglich machte und wohl auch die Flügel der Begeisterung…“<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1222776_image" /></div> <BR /><BR /> Kammerlander fährt vom Gipfel ab, sechs Stunden lang – zurück zum vorgeschobenen Basislager. Ein Ritt durch die Todeszone – hinauf und wieder hinunter, in nur 23 Stunden und 50 Minuten. Ein Rekord, der bis heute Bestand hat.<h3> „Diese Erbsenzählerei relativiert herausragende Leistungen“</h3>Oder etwa nicht? „Da kamen immer wieder einzelne Erbsenzähler, die meine Abfahrt 1996 nicht als erste durchgehende Abfahrt vom Everest werteten, weil ich aufgrund der schlechten Schneeverhältnisse einige Male abklettern – sprich, die Ski für wenige Meter abschnallen musste. Hätte ich gewusst, welche Diskussion das auslöst, hätte ich sie definitiv angelassen.“ <BR /><BR />Diesen Hang zu „Null Toleranz“ kritisiert er scharf und erinnert an andere absurde Debatten: Etwa um Reinhold Messner, dessen Annapurna-Besteigung nachträglich infrage gestellt wurde – wegen eines angeblich fünf Meter tiefer gelegenen Punktes. Oder an Davo Karnicar, der schon 2000 eine komplette Abfahrt vom Everest schaffte – wie der Pole über die Südroute und mit kurzfristigem Sauerstoffeinsatz am letzten Tag. Auch dessen Leistung wurde relativiert, obwohl sie technisch und konditionell herausragend war.<h3> „In diesen Dimensionen zählen diese minimalen Abweichungen nicht“</h3>„Auf diesen Bergen, in diesen Dimensionen, zählen solche minimalen Abweichungen schlicht nicht. Es ist irrelevant. Dort bist du extremen Bedingungen ausgesetzt, siehst kaum etwas, kämpfst mit Schneeverwehungen oder anderen widrigen Umständen. Fünf Meter Unterschied oder ein paar Schritte zu Fuß – das zählt nicht. Es gibt kein Gipfelkreuz, keine Markierung – nur den Berg, die Natur und die Leistung selbst.“<BR /><BR />In der Szene, so Kammerlander, wisse man ohnehin, wer echte Leistungen vollbracht hat – und wer bloß Schlagzeilen produziert. Und jeder aus der Szene versteht Kammerlanders Enttäuschung über die mediale Aufregung um die neue Abfahrt umso besser. Es geht Kammerlander nicht darum, anderen etwas abzusprechen – ganz im Gegenteil:<BR />„Ich spreche jedem die größten Komplimente aus, der wirklich Großartiges schafft – wie zum Beispiel Dani Arnold.“ Dieser stellte 2019 einen Speed-Rekord an der Nordwand der Großen Zinne auf: 550 Meter, die Comici-Dimai-Route, free solo in 46 Minuten und 30 Sekunden. Kammerlander: „Eine wahre Meisterleistung, zu der ich ihm auch gratuliert habe.“<h3> „Habe viele Freunde verloren“</h3>Und wie blickt er auf seine extremsten Abenteuer und historischen Erfolge zurück? „Manchmal denke ich schon: Wenn ich eine Mücke geschluckt hätte, hätte ich mehr Hirn im Bauch als im Kopf gehabt – vor allem in meinen Jugendjahren. Neben positivem Denken braucht es auch immer eine große Portion Glück. Denn Unfälle passieren den besten Alpinisten und der Preis ist hoch.“<BR /><BR />Kammerlander weiß, wovon er spricht, mit Tragödien kennt er sich aus. „Ich habe viele Freunde verloren. Von all meinen Expeditionspartnern auf 8000er-Expeditionen sind nur noch vier am Leben.“ Sein Kletterpartner Lois Brugger stürzte 2006 am Jasemba in Nepal in den Tod. Carlo Großrubatscher und Friedl Mutschlechner starben 1991 am Manaslu. Kammerlander sagt, es sei extrem hart, mit diesen Verlusten umzugehen – doch tröstlich sei der Gedanke, dass sie bei dem starben, wofür ihr Herz schlug. Für den Alpinismus. Für den Moment. Und für echte Leistungen, die bleiben. Leistungen, die auf wahrer Leidenschaft, Stärke, Können und brutaler Ehrlichkeit basieren.<BR /><BR />Wenn Sie mehr über Hans Kammerlander und seine vielen Erfolge erfahren wollen, klicken Sie <a href="https://www.kammerlander.com/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">hier</a>.