Am 3. September 1990 verschwindet die 19-jährige Evi Rauter während eines Besuchs bei ihrer Schwester Christine in Florenz. Am frühen Morgen des 4. September finden in Portbou an der spanisch-französischen Grenze Einheimische ein an einer Pinie erhängtes Mädchen. Dass die tote Unbekannte Evi Rauter ist: Das wird erst im April 2022 klar. Über 3 Jahrzehnte wissen Mutter, Vater und Schwester Christine nichts vom Schicksal ihrer Evi.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="886538_image" /></div> <h3> Der Fall: 32 Jahre ohne Spur – und dann geht es Schlag auf Schlag</h3>Die spanischen Ermittler gehen im September 1990 von einem Suizid aus. Eine Autopsie wird nicht gemacht. Der Fall bleibt ungelöst, die Tote ohne Namen. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="769493_image" /></div> <BR />Polizisten, Rechtsmediziner und Journalisten aus der Gegend haben den Fall aber nie aufgegeben. Der Zufall will es schließlich, dass die Zusammenarbeit von Journalisten über die Grenzen hinweg zum Erfolg führt: Eine Südtirolerin ist zufällig Ende April 2022 in Vorarlberg und sieht die Dokumentation auf ATV über die unbekannte Frauenleiche in Spanien. Die Fotos, die gezeigt werden, rufen in der Frau Erinnerungen wach. Einige Tage nach der Sendung schreibt sie an die Redaktion und gibt den entscheidenden Hinweis zur Identität der Frauenleiche. Die Familie von Evi Rauter – die Eltern und die Schwester – erkennen Evi auf dem Foto sofort wieder. Christine Rauter fährt Mitte Mai für eine Woche nach Portbou. Sie bringt Gegenstände ihrer Schwester zur Polizei, damit Evi Rauters Fingerabdrücke abgeglichen werden können. <BR /><BR />Doch nicht die Fingerabdrücke führen schlussendlich zur offiziellen Identifizierung im November 2022, sondern der Gesichtsvergleich, wie Christine Rauter im Interview berichtet.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="886541_image" /></div> <BR /><BR />Eine große Frage steht weiter im Raum: War es Mord? Rechtsmediziner und Polizisten hegen nämlich Zweifel daran, dass es sich um Suizid handelt. Die spanischen Behörden können die Ermittlungen aber nicht mehr aufnehmen – der Mord ist dort bereits verjährt. In Bozen und Florenz sind die Staatsanwaltschaften aber nun aktiv geworden.<BR /><BR /><b>STOL: Gibt es schon Neuigkeiten in den Ermittlungen zum Tod Ihrer Schwester?</b><BR />Christine Rauter: Im Juni 2022 hat die Staatsanwaltschaft in Florenz eine Fallakte angelegt. Die Vorerhebungen laufen. Der Staatsanwalt sammelt Material. Ich bin mit einem Inspektor in Verbindung. Im Jänner sind die Unterlagen der Staatsanwaltschaft übergeben worden. Wir müssen abwarten, was herauskommt: Entweder wird der Fall neu aufgerollt oder zu den Akten gelegt. <BR /><BR /><b>STOL: 6 Monate waren ursprünglich die Frist, innerhalb der dies hätte entschieden werden sollen. Diese Zeit ist um. Deuten Sie das als ein gutes Zeichen?</b><BR />Rauter: Die Frist ist verlängert worden. Es ist immer wieder etwas Neues herausgekommen – Gott sei Dank! Wenn die Ermittler den Fall hätten archivieren wollen, hätten sie es wohl getan. In den nächsten Wochen werde ich wieder nachfragen.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="886544_image" /></div> <BR /><BR /><b>STOL: Welche neuen Spuren gibt es?</b><BR />Rauter: Das weiß ich nicht. Es unterliegt alles dem Ermittlungsgeheimnis. Aber die katalanischen Journalisten lassen nicht locker. Sie informieren mich.<BR /><BR /><b>STOL: Journalisten waren es, die entscheidende Hinweise zur Identifizierung Ihrer Schwester geben konnten.</b><BR />Rauter: Tura Soler ist eine Journalistin aus Portbou. Sie verfolgt den Fall seit 32 Jahren. Sie hat nie lockergelassen und immer wieder darüber geschrieben, um den Fall nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Dafür hat sie für immer unseren Dank. Erst im Jänner haben sie und ihr Kollege Jordi Grau ein neues Buch über 10 ungeklärte Fälle aus Katalonien veröffentlicht – einer davon ist Evis. Es heißt „Sens Castig“ – das bedeutet „Ohne Strafe“.<BR /><BR /><b>STOL: Es gibt einige Spuren, die darauf hindeuten, dass Ihre Schwester Evi ermordet worden ist – etwa, dass an ihren Füßen keine Dornen gefunden wurden, obwohl die Pinie, an der sie erhängt aufgefunden worden war, mitten in einem Feld voller Kaktusfeigen steht. Auch die Art, wie das Seil geknüpft war, und andere Details passen nicht zu einem Suizid. Auch Sie glauben nicht an die Suizid-These?</b><BR />Rauter: Die ganze Situation passt nicht dazu. Viele haben sich mit diesen Fragen befasst. Auch Gerichtsmediziner. Sie haben alle ihre Theorien veröffentlicht. Es liegt nun bei der Polizei.<BR /><BR /><embed id="dtext86-59150059_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: In dem Fall hat es sehr viele Pannen und Fehler gegeben: Grund dafür, dass Ihre Familie über 30 Jahre lang mit der Ungewissheit leben musste, was mit Ihrer Schwester geschehen ist. Wie gehen Sie damit um?</b><BR />Rauter: Die Vermisstenanzeige, die ich im September 1990 in Florenz aufgegeben habe, und die Beschreibung der damals unbekannten Leiche in Portbou sind wörtlich identisch. Auch ohne Fotos, nur mit dem Text, hätte jedes Kind sehen müssen, dass es sich um dieselbe Person handelt. Die Anzeige war in Papierform. Ein Fax hätte genügt. Über 30 Jahre mussten wir mit der Ungewissheit leben. <BR /><BR /><b>STOL: Offiziell identifiziert worden ist Ihre Schwester dann erst im vergangenen November.</b><BR />Rauter: Im vergangenen November hat die spanische Guardia Civil endlich die offizielle Identifizierung gemacht. Im Mai schon hatte ich meine DNS abgegeben, 6 Monate hat es dann noch gedauert. Wir hatten Evi schon im Mai durch Fotos eindeutig identifiziert. Seit November ist es offiziell: Die Guardia Civil hat einen offiziellen Gesichtsvergleich gemacht. Ein Gutachten von 40 Seiten. Es wurde an die Staatsanwaltschaft in Florenz weitergegeben.<BR /><BR /><embed id="dtext86-59157210_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Können die Ermittler nach so vielen Jahren noch Spuren finden?</b><BR />Rauter: Man muss sich vorstellen: In den 90er Jahren hat man der Leiche meiner Schwester nicht einmal Blut abgenommen, der Gerichtsmediziner hat die Leichenbeschau damals ganz oberflächlich gemacht. Man ging einfach von einem Suizid aus – obwohl der Pathologe Rogelio Lacaci später sagte, es habe keine Anzeichen gegeben, dass Evi selbst auf den Baum geklettert sein könnte. Er ist nicht einmal nach Portbou gefahren. Er hat gesagt, er hatte damals zu viel zu tun. Auch die Fotos ihrer Leiche am Baum hat er nie gesehen. Mehrere Elemente haben nicht gepasst, deshalb hat er ihren Körper einbalsamiert. Auf diese Weise hätte man auch Jahre später noch Untersuchungen machen können. <BR /><BR /><BR /><b>STOL: Bis 2001 hat Evi Rauters Leichnam dann in einer Grabnische in Figueras geruht.</b><BR />Rauter: Evi wurde in eine Grabnische gelegt. Die Gemeinde hat 10 Jahre lang ihr Grab als das einer unbekannten Toten bezahlt. Und dann ist wieder ein Fehler passiert: Obwohl ihre Leiche noch gerichtlich beschlagnahmt war, haben 2 Arbeiter sie einfach aus der Nische genommen und in einem Massengrab beigesetzt. Das ist eine einfache Wiese. Dazu hätte es eine richterliche Verfügung gebraucht. Die beiden haben den einbalsamierten Körper einfach entfernt. Wie sie das getan haben, können sie uns nicht mehr sagen, denn sie sind inzwischen beide schon gestorben.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="886547_image" /></div> <BR /><BR /><b>STOL: Und wie haben die offiziellen Stellen reagiert?</b><BR />Rauter: Es wurde einfach in der Gemeinde Figueras registriert. Das ist eine komische Sache: 2 Monate, nachdem Evis Körper aus der Nische genommen wurde, hat die Guardia Civil die Autorisierung bekommen, im Rahmen des EU-Projekts Phönix eine DNS-Probe der damals noch unbekannten Toten in der Nische zu nehmen. Die Guardia Civil und ein Richter wollten also hingehen, aber der Körper war schon verschwunden. Wieder ein Fehler – einer nach dem anderen! Alles ist total falsch gegangen. Durch Zeitungsberichte und durch die Arbeit von Tura Soler ist der Fall trotzdem nicht in Vergessenheit geraten. Wären die Medien nicht so hartnäckig gewesen, ich bin sicher, wir wüssten heute noch nichts von Evis Schicksal. <BR /><BR /><b>STOL: Was hat die Nachricht für Sie bedeutet?</b><BR />Rauter: Für uns war wichtig, zu wissen, wie das Ende gewesen ist. Alles andere ist heute noch im Verborgenen: Was in den 20 Stunden zwischen ihrem Fortgehen aus Florenz und ihrem Tod, auf den 1000 Kilometern, die sie zurückgelegt hat, passiert ist, weiß man nicht – wenn sich nicht ein Zeuge meldet. Man kann nicht rekonstruieren, ob Evi einen Zug genommen hat oder per Anhalter gefahren ist. Das hat man damals gemacht. Vielleicht wollte sie auf diese Weise nach Siena und es ist anders gekommen… oder sie ist überredet worden. Evi war nicht leichtsinnig, sie wäre nicht zum Erstbesten ins Auto gestiegen.<BR /><BR /><b>STOL: Haben Sie inzwischen eine Antwort darauf gefunden, warum Evi nach Spanien gefahren sein könnte?</b><BR />Rauter: Evi hatte keine Verbindungen nach Spanien, im Mai 1990 war sie mit der Klasse in Berlin, sonst war sie nie im Ausland. Hätten wir geahnt, dass Evi nach Spanien gefahren ist, hätten wir dort in all den Jahren nachgefragt. Wir wissen nicht, warum sie dorthin ist. <BR /><BR /><b>STOL: Es liegen fast 1000 Kilometer zwischen Florenz und Portbou. Gibt es auf der gesamten Strecke keine Spur von Evi?</b><BR />Rauter: Wir können uns die 1000 Kilometer nicht erklären. Evi hatte fast kein Geld dabei, nur 50.000 Lire. 10.000 Lire hätte es gekostet, mit dem Zug nach Siena zu fahren. Sie war ja nur die paar Tage bei mir, hatte auch keine Bancomatkarte, ja nicht einmal ein Konto. Sie war ja erst 19 Jahre alt. Hätte sie sich für 50.000 Lire überhaupt ein Zugticket nach Spanien kaufen können? Warum hätte sie ausgerechnet nach Portbou fahren sollen? Den Ort kennt ja keiner. Vielleicht wollte sie von Siena per Autostopp zurück nach Florenz. Es gibt viele Hypothesen. Beweisen können wir nichts. <BR /><BR /><b>STOL: Unweit der Stelle, an der Evis Leichnam gefunden worden ist, haben damals 6 junge Touristen aus Österreich gezeltet. Ein Rechtshilfeersuchen an Österreich soll helfen, sie zu befragen. Wissen Sie, ob es an dieser Front Neuigkeiten gibt?</b><BR />Rauter: Dieses Element ist bis heute sehr seltsam. Die Touristen haben damals ausgesagt, nichts zu wissen. Die Befragung dieser Zeugen ist nicht so einfach, da 3 Länder im Spiel sind. Ein italienischer Staatsanwalt kann nicht einfach die Befragung veranlassen. Das muss von Österreich ausgehen. Ich weiß aber nichts Neues dazu, von der Bozner Staatsanwaltschaft bin ich nie kontaktiert worden. In Florenz bin ich 2mal einvernommen worden. Die Akten kann ich aber nicht einfach einsehen… <BR /><BR /><b>STOL: Wie geht es weiter?</b><BR />Rauter: Wir hoffen, dass die Ermittlungen weitergehen, in Katalonien sind sie sehr aktiv. Es wird viel über den Fall geschrieben – ich kann inzwischen fast Katalanisch, so viel habe ich im letzten Jahr gelesen. Für uns hier ist es sehr schwierig, etwas Neues zu erfahren, neue Spuren zu finden: Hier ist Evi weggefahren. Es gibt hier keinen Anhaltspunkt. Der Anfang fehlt uns. Niemand hat sie in Siena gesehen. Niemand weiß, ob sie am Bahnhof war oder ein Auto sie mitgenommen hat.<BR />