Doch knapp zwei Jahre nach dem Urteil treten Zweifel auf. Eine Gruppe internationaler Experten, koordiniert von Letbys Anwalt Mark McDonald, behauptet: Es gebe keinerlei Belege, dass die Säuglinge absichtlich geschädigt wurden. Für die Familien der Opfer ist diese These ein Schlag ins Gesicht – für sie steht die Schuld längst fest.<h3> Zwei Welten, zwei Wahrheiten</h3>Der Fall Letby spaltet die Öffentlichkeit. Während für die Anklage und die Hinterbliebenen die Beweise erdrückend wirken – die Geschworenen entschieden nach zehnmonatigem Prozess in mehreren Fällen einstimmig –, spricht McDonald von einer „fatalen Fehlkonstruktion“ der Justiz. Seine Gutachter sehen zentrale medizinische Annahmen der Anklage als fehlerhaft.<BR /><BR />Besonders im Fall des „Baby O“, eines von Drillingen, zeigten sich die Brüche. Laut Staatsanwaltschaft starb das Kind an massiven Leberverletzungen – ähnlich jenen nach einem Autounfall. Die Verteidigung versucht nun, Zweifel an dieser These zu belegen.<h3> Streit um Luftembolie und Nadelstich</h3>Auch die Theorie, Letby habe Luft in Blutbahnen gespritzt, wackelt. Der kanadische Neonatologe Shoo Lee, einst selbst Autor einer Studie zur Luftembolie, wirft den Anklägern vor, seine Arbeit falsch zitiert zu haben. Hautverfärbungen, die im Prozess als Beweis galten, seien in vergleichbaren Fällen nie beobachtet worden.<BR /><BR />Andere Experten wiederum erkennen tatsächlich Spuren einer Luftembolie – jedoch verursacht bei Wiederbelebungsmaßnahmen, nicht durch absichtliche Injektionen.<BR /><BR />Zusätzliche Brisanz bringt die „Nadel-Theorie“. Ein Gutachter der Verteidigung vermutet, ein Arzt habe Baby O während der Reanimation versehentlich mit einer Kanüle verletzt – ein Arzt, der zugleich einer der Hauptbelastungszeugen gegen Letby ist. Doch andere Pathologen widersprechen: Für einen tödlichen Nadelstich gebe es keinerlei Belege.<h3> Geburtsverletzung oder Insulinvergiftung?</h3>Weitere Hypothesen kursieren: Die Leberverletzungen könnten auf Geburtskomplikationen zurückgehen – doch Letbys eigener ehemaliger Verteidigungsexperte hält dies für unhaltbar, da die Geburt per Kaiserschnitt problemlos verlief.<BR /><BR />Noch heikler sind die Fälle zweier anderer Säuglinge, in deren Blut ungewöhnliche Insulinwerte gemessen wurden. Für die Staatsanwaltschaft ein klarer Hinweis auf Vergiftung. Die Verteidigung zweifelt die Zuverlässigkeit der Tests an.<h3> Offene Fragen – und ein ungelöstes Rätsel</h3>Das Bild, das entsteht, ist widersprüchlich. Die Staatsanwaltschaft präsentierte Indizien, die nicht immer medizinisch unanfechtbar sind. Doch auch die Verteidigung verliert sich in konkurrierenden Theorien, die sich teilweise gegenseitig ausschließen.<BR /><BR />Nun liegt der Fall beim Criminal Cases Review Commission (CCRC). Sollte die Kommission eine Neubewertung anordnen, entscheidet der Court of Appeal, ob das Verfahren tatsächlich wieder aufgerollt wird. Erst dort würden sich die widersprüchlichen Gutachten einer endgültigen Prüfung stellen.<BR /><BR />Bis dahin bleibt die Frage unbeantwortet: War Lucy Letby eine Serienmörderin im Krankenhaus – oder Opfer eines der größten Justizirrtümer in der Geschichte des Vereinigten Königreichs?