<b>STOL: Die Fälle von Jugendgewalt in Meran und Umgebung haben aufhorchen lassen – und auch in anderen Kontexten kommen immer wieder derartige Vorfälle ans Licht. Nimmt dieses Phänomen tatsächlich zu?</b><BR />Michael Reiner: Um darauf eine genaue Antwort zu geben, bräuchte es Statistiken, die wir in dieser Form nicht haben. An sich hat es Vorfälle von Gewalt unter Jugendlichen immer schon gegeben. Was sich in meinen Augen jedoch sehr wohl verändert hat, sind die Art und Weise, wie sich diese äußert, sowie deren Intensität. Die Hemmschwellen haben sich verändert und das Ganze ist zweifelsohne sichtbarer geworden. <BR /><BR /><b>STOL: Woran kann es liegen, dass sich Jugendliche derart extrem verhalten und mitunter auch nicht davor zurückschrecken, einander erheblich zu verletzen?</b><BR />Reiner: Mit ein Grund für das Verhalten ist sicherlich das Bedürfnis der jungen Menschen, Aufmerksamkeit zu bekommen und nicht unterzugehen. Sie versuchen, sich zu behaupten und herauszustechen und entwickeln verschiedene Strategien, die dann unter Umständen eine Eigendynamik bekommen. Gleichzeitig spielen aber auch viele andere Faktoren eine Rolle, die immer im Zusammenhang gesehen werden müssen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-58912342_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Anstatt einer Verallgemeinerung sollte also stets ein Blick auf den Einzelfall geworfen werden?<BR /></b>Reiner: Absolut! Allerdings bewegen wir uns hier auf sehr heiklem Terrain. Wie gesagt, können die Gründe für eine Gewalttat vielfältig sein. Nicht immer sind es das familiäre Umfeld und die kulturellen Prägungen, die die Jugendlichen dazu verleiten, extrem zu handeln und zu reagieren. Manchmal spielt die Suche nach Respekt eine Rolle, manchmal steht das Erreichen eines Ziels im Mittelpunkt, das auf anderen Wegen schwerer greifbar erscheint. Gleichzeitig darf jedoch auch der Kontext nicht außer Acht gelassen werden. Der soziale Aspekt und die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind keineswegs zu vernachlässigen und zu verharmlosen. Das Problem muss also sowohl aus einer engen als auch aus einer weiter gefassten Perspektive betrachtet werden – und das ist eine große Herausforderung.<BR /><BR /><b>STOL: Trotzdem werden Pauschalurteile gerade in diesem Zusammenhang oft sehr schnell gefällt. Was bedeutet dies für die jungen Menschen und auch für die restliche Bevölkerung? <BR /></b>Reiner: Gerade, wenn es sich um Täter ausländischer Herkunft handelt, besteht die Gefahr, dass durch das Aufflammen einer Debatte um mögliche Ausweisungen oder generell die Aufnahme von Migranten die Gesellschaft weiter gespalten wird. Natürlich ist das ein Aspekt, der nicht unbeachtet bleiben darf, allerdings ist es problematisch, bestimmten Personengruppen einen Stempel aufzudrücken. Denn manchmal kann gerade das mit ein Grund für weitere Vorfälle sein. <BR /><BR /><b>STOL: Inwiefern?<BR /></b>Reiner: Wird den Menschen von vorne herein etwas Schlechtes nachgesagt, ist die Hemmschwelle für ein auffallendes Verhalten unter Umständen niedriger. Das negative Image besteht ja sowieso, also entsteht der Eindruck, nicht mehr viel zu verlieren zu haben. Dasselbe gilt für die Jugendlichen im Allgemeinen. Kommt es zu Gewalttaten, rückt dies mitunter die Gesamtheit junger Menschen in ein schlechtes Licht und fördert weitere Ausläufer. Das ist wie ein Boomerang. <BR /><BR /><b>STOL: Die Gewalttäter schaden also nicht nur ihren unmittelbaren Opfern, sondern indirekt auch einer großen Gruppe an Gleichaltrigen?<BR /></b>Reiner: Genau so ist es. Und gerade das ist ihnen oftmals nicht bewusst. Eine Straftat kann viel weitere Kreise ziehen, als im ersten Moment vielleicht angenommen. Die gesellschaftlichen Folgen sind nicht zu unterschätzen und es wäre falsch, davor die Augen zu verschließen. <BR /><BR /><embed id="dtext86-58912346_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen, wird unmittelbar der Ruf nach Maßnahmen laut. Was kann konkret unternommen werden, um das Problem zu lösen oder zumindest einzudämmen?<BR /></b>Reiner: Dem Problem auf den Moment Herr zu werden, ist nahezu unmöglich. Maßnahmen müssen hier auf längere Sicht ergriffen werden. Natürlich braucht es im ersten Moment klare Grenzen. Es braucht Kontrollen und jeder Vorfall muss Auswirkungen für die Täter haben. Zugleich ist es jedoch wichtig, einen Raum für die Jugendlichen zu schaffen und eine gewisse Kultur aufzubauen – nicht nur in der Schule, sondern auch in der Freizeit und im privaten Umfeld. <BR /><BR /><b>STOL: Wo genau liegen Ihrer Einschätzung nach die Bedürfnisse der heutigen Jugendlichen?<BR /></b>Reiner: Die jungen Menschen heute leben in einer paradoxen Situation. Auf der einen Seite steht ihnen alles offen, auf der anderen Seite sorgt gerade das für viel Unsicherheit. Es besteht ein großer Druck. Deshalb ist es umso wichtiger, die Jugendlichen dort abzuholen, wo sie stehen. Es müssen Angebote geschaffen werden, die es ihnen ermöglichen, sich zugehörig zu fühlen. Dafür braucht es klare Regeln ebenso wie Toleranz. Und es braucht den Austausch und das Zusammenspiel vieler Institutionen und Kräfte, weit über die Akutphase eines konkreten Vorfalls hinaus.<BR /><BR /> <a href="https://www.stol.it/tag/Jugendgewalt" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Mehr zum Thema finden Sie hier.</a>