<b>Herr Prackwieser, Israel kündigte vergangene Woche an, Gaza-Stadt einnehmen und die Hamas auslöschen zu wollen. Was ist das strategische Ziel dieser Offensive?</b><BR />Josef Prackwieser: Das erste Ziel Israels wäre zunächst, die israelischen Geiseln zu befreien. Das übergeordnete strategische Ziel liegt jedoch in der Zerschlagung der Hamas. Premierminister Benjamin Netanjahu hat mehrfach betont, dass er diese Aufgabe zu Ende führen will – also die Hamas als feindliche Kraft weitgehend zu eliminieren.<BR />Offiziell wird dies als Sicherheitsmaßnahme dargestellt, doch Kritiker vermuten, dass Netanjahu aus eigennützigen Gründen den Krieg verlängern möchte und um eine Zweistaatenlösung zu verhindern. Unabhängig davon markiert die Offensive eine massive Eskalation des Konflikts. Besonders die städtische Kriegsführung, die sogenannte „Urban Warfare“, ist extrem verlustreich – sowohl für die Zivilbevölkerung in Gaza als auch für die Angehörigen der israelischen Streitkräfte, ganz zu schweigen vom Risiko, dass das Leben der israelischen Geiseln gefährdet wird. Der Widerstand in der Zivilbevölkerung und der Opposition ist entsprechend hoch.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1200798_image" /></div> <BR /><BR /><b>Welche praktischen und politischen Herausforderungen ergeben sich für Israel, wenn es tatsächlich zu einem großangelegten Angriff auf Gaza-Stadt kommt?</b><BR />Prackwieser: Ich bin kein Militärexperte, aber aus Erfahrungen anderer urbaner Konflikte lässt sich einiges ableiten. In dicht besiedelten Gebieten wie Gaza-Stadt haben militärische Einheiten nur begrenzten Raum zum Manövrieren. Die Gefahr, durch Heckenschützen oder versteckte Angriffe getroffen zu werden, ist hoch. Außerdem ist die Unterscheidung zwischen regulären Kämpfern und Zivilisten in solchen Szenarien außerordentlich schwierig, was zu hohen Todeszahlen in der Zivilbevölkerung führen könnte. Historische Vergleiche, etwa mit den Kriegen der USA in Afghanistan und im Irak, zeigen, dass solche Einsätze eine große psychische Belastung für die israelischen Soldaten darstellen. Erfahrungen aus früheren Konflikten Israels und aus anderen Regionen bestätigen, dass viele Soldaten nach Einsätzen dieser Art unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, die nicht nur eine Bürde für die Betroffenen sowie deren Familien und Angehörigen darstellen, sondern für die gesamte Gesellschaft. Ganz abgesehen vom immensen Leid für die palästinensische Zivilbevölkerung vor Ort.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1200801_image" /></div> <BR /><BR />Sollte die IDF tatsächlich einen Angriff auf Gaza-Stadt und die dortigen Flüchtlingslager durchführen und die vollständige Kontrolle über das Territorium übernehmen, könnte dies Israel mittel- und langfristig in die Rolle einer Besatzungsmacht bringen. Checkpoints, Absperrungen von Stadtteilen, Streiftrupps, vorübergehende oder dauerhafte Sperrzonen wären die kurzfristige Konsequenz. Längerfristig müssten diese Zonen gesichert und versorgt werden. Völkerrechtlich wären damit umfangreiche Pflichten verbunden, etwa die Sicherstellung von, Strom- und Wasserversorgung sowie der Betrieb von Krankenhäusern, die Leitung einer provisorischen Bürokratie usw. Logistisch und organisatorisch bedeutet dies eine große Herausforderung und neue Verantwortlichkeiten, aus denen ein schneller Abschied, so wie sich dies Netanjahu vorstellt, schwer möglich ist .<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1200804_image" /></div> <BR /><BR /><b>Wie wird dieser Plan in Israel aufgenommen?</b><BR />Prackwieser: Die Entscheidung, in Gaza-Stadt einzumarschieren, wird in Israel kontrovers diskutiert. Zehntausende Menschen protestieren gegen die geplante Offensive und setzen sich für einen Geiseldeal und das Kriegsende ein, darunter auch Veteranenverbände und ehemalige Kampfpiloten. Selbst Teile der Armeeführung äußern starke Bedenken, da es sich hierbei eher um eine politische als um eine militärische Entscheidung handelt. Kritiker vermuten, dass Netanjahu den Krieg verlängern möchte, um sich innen- wie außenpolitisch strategische Vorteile zu sichern. Netanjahu hat einen Fünf-Punkte-Plan vorgestellt, der Entwaffnung der Hamas, Demilitarisierung des Gebiets, Rückführung der Gefangenen und Toten, eine „zeitlich begrenzte Sicherheitskontrolle“ und eine mögliche zivile Verwaltung durch befreundete arabische Staaten vorsieht. Viele Aspekte dieses Plans gelten als politisch motivierte „Nebelkerzen“. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1200807_image" /></div> <BR /><BR />Insbesondere die Idee einer „temporären Sicherheitskontrolle“ scheint schwer praktikabel und könnte innen- wie außenpolitisch zu Konflikten führen. Auch die Übertragung der Verwaltung an arabische Staaten ist höchst umstritten, da diese kaum Interesse daran haben dürften, sich in den Konflikt einzumischen oder öffentlich gar als Kooperationspartner Israels aufzutreten. Insgesamt zeigt sich: Die geplante Offensive bringt sowohl politische, militärische als auch ökonomische Herausforderungen mit sich. Die Verantwortung für zivile Opfer, logistische Aufgaben und die politische Handhabung des Gebiets wäre immens und schwer zu bewältigen. Ethisch wäre dieser Schritt eine humanitäre Katastrophe und eine Vorstufe zur Vertreibung der Menschen aus dem Gaza-Streifen.<BR /><BR /><b>Trotz massiver internationaler Kritik und auch aus den eigenen Reihen bleibt Netanjahu bei seinem harten Kurs. Warum?</b><BR />Prackwieser: Dieser Kurs dient Netanjahu als politische Lebensversicherung. Man muss bedenken, wie fragil seine Regierungsmehrheit ist: Das Zünglein an der Waage bilden nationalreligiöse sowie rechtsextreme Kräfte, die nur geringe Prozentpunkte der Koalition ausmachen, aber großen Einfluss darauf haben, dass der Krieg fortgeführt wird. Hinzu kommt, dass Netanjahu selbst und einige seiner Likud-Minister in juristische Verfahren verwickelt sind. Ein Zerfall der Koalition könnte seine Position schwächen und die laufenden Gerichtsprozesse gegen ihn begünstigen. Der harte Kurs sichert ihm also innenpolitisch Rückhalt und Stabilität. Zugleich spielt die Rückholung der Geiseln eine Rolle. Netanjahu stellt dies als zentralen Grund seiner Handlungen dar, doch eine zielführende Lösung ist bislang nicht in Sicht, da auch die Hamas ein eigenes Interesse daran hat, den Konflikt fortzuführen, um ihre politische Position zu wahren. International wirken sich wirtschaftliche und geopolitische Faktoren aus. Während Europa, etwa Deutschland, die Militärlieferungen an Israel stark eingeschränkt hat, bleiben die USA, insbesondere unter Einfluss von Donald Trump, ein wichtiger Rückhalt für Israel. Dies stabilisiert den Kurs Netanjahus zusätzlich. <BR /><BR /><b>Nach 22 Monaten der Kämpfe gerät Israel zunehmend auch wirtschaftlich unter Druck. Wie lange kann sich das Land den Krieg noch leisten?</b><BR />Prackwieser: Israel ist bekannt als „Startup Nation“ – innovativ, wirtschaftlich erfolgreich und technologisch führend. Doch der Krieg belastet sowohl die militärischen Ressourcen als auch die Wirtschaft massiv. Viele Reservisten werden einberufen, diese Menschen fehlen dann als Arbeitskräfte in den Betrieben. Die Hauptlast tragen vor allem liberale Teile der Bevölkerung, während die Ultraorthodoxen bis vor Kurzem vom Kriegsdienst ausgenommen waren. Diese dauerhafte Mobilisierung wirkt sich auch auf die Wirtschaft aus. Investoren und internationale Unternehmen beobachten die Lage genau: Risikokapital fließt weniger, internationale Firmen ziehen teilweise ihre Aktivitäten zurück, und die wirtschaftliche Unsicherheit wächst. Darüber hinaus leidet Israel unter einem erheblichen Imageverlust. Das Land versteht sich als einzige Demokratie im Nahen Osten und möchte ethische Maßstäbe setzen. Die anhaltenden Kampfhandlungen im Gaza-Streifen, die hohe Zahl ziviler Opfer und Berichte über Kriegsverbrechen gefährden dieses jüdisch-demokratische Selbstverständnis und könnten Israel noch stärker international isolieren als ohnehin. Massive diplomatische Kritik auch von befreundeten Staaten und erste Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Genozid-Verdachts erhöhen diesen Druck zusätzlich. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1200810_image" /></div> <BR /><BR />Finanziell betrachtet entstünden für Israel enorme Kosten, sollte es zu der militärischen Verwaltung Gazas kommen: Der Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur, die Versorgung von Millionen Menschen in den betroffenen Gebieten sowie militärische Ausgaben summieren sich auf viele Milliarden Dollar jährlich. Insgesamt steht Israel personell und wirtschaftlich an der Belastungsgrenze. Die zentrale Frage ist, wie lange das Land diese Doppelbelastung – militärisch wie wirtschaftlich – noch tragen kann.<BR /><b><BR />Wie positionieren sich andere politische Akteure in der Region angesichts der aktuellen Situation im Gazastreifen?</b><BR />Prackwieser: Einige der wichtigsten regionalen Akteure spielen derzeit nur eine begrenzte Rolle. Iran etwa ist momentan „ausgeschaltet“ – das Land ist nach dem „12-Tage-Krieg“ mit Israel selbst stark mit internen Problemen beschäftigt – etwa Wasserknappheit – sowie mit dem von Israel zerstörten oder bekämpften „Feuerring“ seiner Verbündeten Hisbollah im Libanon, Huthis im Jemen und Hamas in Gaza. Direkte Interventionen gegen Israel sind derzeit keine Priorität, auch wenn man nicht ausschließen kann, dass sich Iran in Zukunft wieder stärker einbringen wird. Katar spielt bei Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas eine wichtige Vermittlerrolle, etwa bei der Organisation von Gesprächen über die Freilassung von Geiseln oder humanitären Vereinbarungen. In militärischer Hinsicht hält sich Katar zurück, unterstützte die Hamas aber finanziell über lange Zeit. Andere arabische Staaten, wie Ägypten, üben zwar starke Kritik an Israel und jüngst auch an der Hamas, handeln aber nur sehr begrenzt. So öffnet Ägypten zeitweise seine Südgrenze zum Gaza-Streifen bei Rafah greift jedoch nicht ein. Diese Zurückhaltung folgt einem bekannten Muster: Viele arabische Staaten setzen weiterhin auf diplomatische Abgrenzung, beobachten die Situation kritisch, werden selbst aber nicht aktiv – unter anderem, weil es mittlerweile auch Friedensabkommen und Annäherungen an Israel gibt oder man mehr oder weniger geheim die Bekämpfung der Hamas und anderer Terroristengruppen begrüßt.<BR /><BR /><b>Am Montag hat der französische Präsident Emmanuel Macron eine UNO-Stabilisierungsmission im Gaza-Streifen vorgeschlagen. Ist ein solcher Einsatz realistisch und was könnte er bewirken?</b><BR />Prackwieser: Auch andere europäische Staaten haben sich dafür ausgesprochen. Die UNO hat in der Region traditionell eine schwierige Position, da das UNO-Flüchtlingswerk für Palästina (UNRW) und die UNO insgesamt zu Israel in keiner guten Beziehung stehen. Beide kritisieren sich häufig gegenseitig. Israel befürchtet dabei, dass islamistische Kräfte in UNO-geführten Einrichtungen operieren könnten, die UNO mahnt Tötungen ihrer Mitarbeiter seitens Israel an. In der Praxis würde ein solcher Einsatz nur funktionieren, wenn Israel sehr stark unter Druck geraten würde, da das Land de facto die Kontrolle über Sicherheitsfragen in dem Gebiet behalten möchte. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1200813_image" /></div> <BR /><BR />Die UN-Mission könnte höchstens humanitäre Aufgaben oder Beobachterrollen übernehmen, echte militärische Durchsetzungsbefugnisse sind jedoch kaum realistisch. <BR /><BR /><b>Als langfristige Lösung des Konflikts wird seit Jahrzehnten die Zwei-Staaten-Lösung diskutiert. Diese scheint aktuell ferner den je – gibt es ein Szenario, das Hoffnung auf Frieden in der Region macht?</b><BR />Prackwieser: Im Moment sieht die Lage düster aus: Wenn Menschen aus dem Gazastreifen tatsächlich vertrieben werden, wie es einige Szenarien der aktuellen israelischen Regierung vorsehen, würden dadurch Fakten geschaffen, die die Zwei-Staaten-Lösung praktisch unmöglich machen. Hoffnung schöpfen könnte man nur, wenn es zu einem fundamentalen Wandel in der politischen Landschaft kommt: einerseits durch einen Regierungswechsel in Israel und ein Ende der Siedlerpolitik im Westjordanland, andererseits durch die Absetzung der Hamas im Gaza-Streifen und eine grundlegende Neuausrichtung der politischen Vertretung aller Palästinenser. Dann könnten sich „Windows of Opportunities“ öffnen, ähnlich wie beim Oslo-Abkommen zwischen Israel mit den Palästinensern 1993, der Frieden mit Jordanien 1994 und die Abraham-Abkommen mit den Golfstaaten 2020. Langfristig bleibt die Zwei-Staaten-Lösung aus meiner Sicht die einzige tragfähige Perspektive. Allerdings gibt es massive Hindernisse: Sicherheitsbedenken Israels, besagte israelische Siedlerpolitik, Antisemitismus und Rassismus, das Fehlen verlässlicher politischer Strukturen im Gazastreifen und die tiefen Traumatisierungen auf beiden Seiten. Zu nennen sind zivilgesellschaftliche Initiativen, etwa von israelisch-palästinensischen Müttern („Women Wage Peace“), die zusammenarbeiten, um Verständigung und Versöhnung zu fördern und Frieden zu schaffen. Solche Akteure sind schwach, aber sie zeigen, dass es Wege gibt, für zukünftige Generationen Vertrauen aufzubauen. Ein weiterer Faktor, der zu einer Zusammenarbeit zwingen könnte, ist der Klimawandel: Wasserknappheit und andere ökologische Probleme kennen keine politischen Grenzen. Die Annäherung Israels an die Golfstaaten vor fünf Jahren geschah unter anderem aus diesem Grund. Diese praktischen Notwendigkeiten könnten langfristig dazu beitragen, dass Israel und Palästina kooperieren – auch wenn dies momentan noch sehr theoretisch ist.<BR /><BR /> <a href="mailto:redaktion@stol.it" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Haben Sie einen Fehler entdeckt? Geben Sie uns bitte Bescheid.</a>