Im Interview erzählt die Krankenpflegerin Amanda Prezioso aus dem Fersental über die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen die Palästinenser ihr Dasein fristen müssen.<BR /><b><BR />Seit wann arbeiten Sie als Krankenpflegerin für die Hilfsorganisation Emergency im Gazastreifen?</b><BR />Amanda Prezioso: Seit 17. Juni. Es ist mein zweiter Einsatz dort – das erste Mal war ich zwischen Jänner und März hier. Ich arbeite in den Krankenhäusern von al-Qarara und al-Mawasi.<BR /><BR /><b>Wie ist derzeit die Situation für die palästinensische Bevölkerung dort?</b><BR />Prezioso: Die Situation ist katastrophal. Die Menschen leben nicht mehr in Häusern, sondern in Zelten, kilometerweit steht ein Zelt nach dem anderen. Immer wieder müssen die Menschen ganz plötzlich den Ort wechseln – manche sind schon 20 Mal weitergezogen. Häufig kommt es zu Evakuierungen. Es steht sehr wenig Trinkwasser zur Verfügung. Das Wasser reicht nicht aus, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Lastwagen bringen dieses Wasser und es wird unter den Menschen verteilt. Die Leute laufen dann dorthin, um ihre Eimer zu füllen – Kinder und auch alte Menschen. Pro Mensch werden nur drei Liter Trinkwasser pro Tag verteilt – und das muss für alles reichen: zum Trinken, Kochen und Waschen. Fließendes Trinkwasser gibt es nicht – man lebt ja im Zelt. Und anderes Wasser können sie nicht verwenden – es ist verseucht. Das Wasser müsste zuerst gereinigt werden, um es verwenden zu können. Dafür bräuchte es aber Elektrizität oder Treibstoff, die ebenfalls nicht zur Verfügung stehen. Um einigermaßen würdig leben zu können, bräuchte es 15 Liter Trinkwasser pro Kopf und Tag. So fehlt auch das Wasser, um beispielsweise kochen zu können.<BR /><BR /><b>Wie viel Nahrung steht den Menschen noch zur Verfügung?</b><BR />Prezioso: Sehr wenig. Nahrung wird hier verteilt wie Medizin. Alle sind hier abgemagert und unterernährt. Nachdem ich im März den Gazastreifen verlassen hatte, fingen die Kämpfe wieder an. Als ich dann im Juni zurückkehrte, waren alle abgemagert – meine palästinensischen Kollegen, die Putzfrauen, Fahrer – alle. Und auch alle Leute, die zu uns in die Klinik kommen. Wir dürfen sogenannte therapeutische Nahrung an Kinder im Alter von sechs Monaten bis fünf Jahren ausgeben. Diese sehr kalorienhaltige und mit Vitaminen angereicherte Nahrung dient abgemagerten Kindern dazu, wieder ihr Normalgewicht zu erreichen. Ein kleiner Teil kann auch Schwangeren gegeben werden. Dafür gibt es ein UNICEF-Programm. Aber an größere Kinder – Sechs-, Sieben-, Acht- oder Zehnjährige – dürfen wir diese Nahrung nicht verteilen. Das bricht uns das Herz. Als ich das erste Mal im Gazastreifen war, zwischen Jänner und März, war die Situation viel besser im Vergleich zu heute. Damals hatte man noch zu essen. Jetzt ist alles prekär geworden.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1198635_image" /></div> <BR /><BR /><b>Welche Lebensmittel fehlen im Gazastreifen vor allem?</b><BR />Prezioso: Es fehlt vor allem an Proteinen. Es gibt kein Fleisch und keine Eier – auch die Milchprodukte fehlen – ebenso Milchpulver für die Kinder. Kichererbsen erhält man – aber keine Nahrungsmittel tierischer Herkunft.<BR /><BR /><b>Sind viele Kinder wegen Unterernährung auch in Lebensgefahr?</b><BR />Prezioso: Absolut – viele Kinder sind am Limit. <BR /><BR /><b>Die Preise für Lebensmittel sind in die Höhe geschnellt..</b><BR />Prezioso: Ja. In einigen Zonen sind die Preise um 3.000 Prozent gestiegen. Zucker ist fast nicht mehr zu haben. Der kostet 85 Dollar pro Kilogramm – wenn man überhaupt welchen findet. Auch das Mehl ist sehr teuer. Eine Gasflasche für die Küche kostet umgerechnet mehr als 1.000 Euro. Die Leute begeben sich unter Gefahr in zerstörte Häuser, um dort nach Gasflaschen zu suchen – und diese dann zu enormen Preisen zu verkaufen.<BR /><BR /><b>Immer wieder sind Hilfspakete von Fliegern aus heruntergeworfen worden ...</b><BR />Prezioso: Ja. Eine solche Hilfe ist aber sehr problematisch. Denn die Hilfspakete können beim Runterfallen auf die Zelte Menschen verletzen oder sogar töten. Oder die Pakete fallen in die evakuierten Zonen. Und wer dorthin läuft, der riskiert sein Leben – Hunderte Menschen tun es trotzdem. In diesen Roten Zonen kann es sein, dass man unter Beschuss durch die Israelis gerät.<BR /><BR /><b>Stimmt es, dass etwa zwei Millionen Menschen auf 80 Quadratkilometern leben?</b><BR />Prezioso: Ja. Die Leute leben hier nur mehr auf zehn Prozent ihres ursprünglichen Territoriums.<BR /><BR /><b>Wer kommt zu Ihnen ins Krankenhaus?</b><BR />Prezioso: Wir bieten hier Primary-Health-Care an – etwas mehr als das, was ein Hausarzt anbietet. Die Hebammen unterstützen Schwangere, zu uns kommen auch junge Mütter, die soeben ein Kind geboren haben, weiters auch Menschen mit Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck. Und wir betreuen auch Notfälle und viele Verletzte. Aber es fehlt an Medikamenten. <BR /><BR /><b>Welche Medikamente?</b><BR />Prezioso: Beispielsweise Medikamente, um Patienten auf die Intubation vorbereiten zu können. Viele Menschen werden hier durch Bomben, Granaten oder Projektile verletzt. Und sie kommen dann auch mit Verletzungen, die nicht heilen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1198638_image" /></div> <BR /><BR /><b>Wie viele Krankenhäuser gibt es im Gazastreifen noch?</b><BR />Prezioso: Noch sechs – vorher waren es über 30. All diese Krankenhäuser sind aber beschädigt worden – und sie haben jetzt alle weniger Ressourcen. Eine Chemotherapie oder Dialyse kann kaum noch durchgeführt werden. Und weil manche Leute eine Dialyse gebraucht hätten und nicht bekommen haben, sind sie gestorben.<BR /><BR /><b>Israel hat angekündigt, Hilfsgüter wieder zuzulassen. Spürt man davon bereits etwas?</b><BR />Prezioso: Davon spürt man noch nichts. <BR /><BR /><b>Wie geht es den Kindern, die zu Ihnen kommen? Für sie muss diese Situation ja besonders schlimm sein.</b><BR />Prezioso: Die Kinder leiden oft unter einem posttraumatischen Stress-Syndrom. Sie haben miterlebt, wie Häuser zusammengebrochen sind oder auch, dass auf sie geschossen wurde. <BR /><b><BR />Wie geht es in den Verteilerzentren zu?</b><BR />Prezioso: Für Frauen ist es besonders gefährlich, dorthin zu gehen – noch gefährlicher als für Männer. <BR /><BR /><b>Hören Sie bei Ihrer Arbeit im Spital auch immer wieder Bombeneinschläge und Schüsse, die von Panzerfahrzeugen aus abgegeben werden?</b><BR />Prezioso: Ja, das hören wir konstant. Auch Drohnen werden hier eingesetzt. Hin und wieder zittert die Mauer des Krankenhauses. Wenn ich verdächtige Geräusche höre, dann sehe ich gleich meine palästinensischen Arbeitskollegen an – und wenn sie weiterarbeiten, dann mache auch ich weiter. Ich hoffe dann, dass wir nicht getroffen werden.<BR /><BR /><b>Ministerpräsident Netanjahu strebt die Einnahme des ganzen Gazastreifens an. Wie reagieren die Palästinenser?</b><BR />Prezioso: Das ist eine schwierige Frage. Für die meisten Menschen ist es jetzt wohl das Hauptanliegen, mit ihren Kindern in Frieden leben und ihren Kindern genug Essen geben zu können. Das ist zurzeit ihre größte Sorge. Hier leben sehr viele Eltern mit ihren Kindern. Vielen geht es hier zuallererst ums Überleben. Die Palästinenser wollen aber sicher auch ein freies und unabhängiges Palästina. <BR /><BR /><b>Was wünschen Sie sich für die Menschen dort?</b><BR />Prezioso: Ich wünsche ihnen, dass sie in Frieden leben können und dass sich ihre Wünsche erfüllen. Viele möchten auch einmal reisen können, die Welt sehen – sie sind aus Gaza nie herausgekommen, haben in ihrem Leben nur diesen kleinen Streifen Land gesehen, nicht mehr. Sie sollten so leben können, wie sie möchten. Die Menschen hier haben unglaublich viel Resilienz und immer noch Kraft, um weiterzumachen.<BR /><BR /><BR /><BR />.