<b>Von Martina Hofer</b><BR /><BR />Mit den wärmer werdenden Tagen sind auch sie wieder sichtbar: die Obdachlosen in den Straßen der Landeshauptstadt. „Manchmal gebe ich ihnen eine Münze, Zigarette oder spendiere einen Kaffee“, erzählt Massimiliano Zanellini aus Bozen. Einige kennt er noch beim Namen und weiß wie es ist, frisches Essen zu riechen, aber einen knurrenden Magen zu haben, teure Designeranzüge zu sehen, aber in Klamotten aus dem Container zu stecken, oder Verliebten nachzuäugen und selbst mit einer streunenden Katze den Schlafsack zu teilen. „Es ist ein Scheißleben, gerade wenn das Wetter schlecht ist“, sagt der 55-Jährige und setzt sich fürs Gespräch auf eine eiserne Bank im Ausstellungsbereich der Gärtnerei Schullian. <BR /><BR />Kalt? „Nein, ich habe drei Jahre im Freien geschlafen. Da macht dir das nichts mehr aus“, sagt der Angestellte der bekannten Bozner Gärtnerei und lächelt. <BR /><BR />Er hat eine Zahnlücke, einen lichten Bart, und die leicht verfilzten Haare stehen vom Kopf ab wie kleine Sensoren, die jeden positiven „Vibe“ inmitten der blühenden Topfpflanzen aufzusaugen versuchen. Max, wie er hier genannt wird, zieht sich seine Arbeitshandschuhe aus und wischt sich zufrieden den Arbeitsschweiß aus dem Gesicht. „Es geht mir gut. Mein Kühlschrank <?Uni SchriftWeite="95ru"> ist voll, und ich habe ein Dach über dem Kopf“, sagt er bescheiden.<?_Uni> <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1154586_image" /></div> <BR /><BR />Von 2018 bis Ende 2021 lebte der gebürtige Bozner nämlich auf der Straße. Was in seinem Leben schiefgelaufen ist? Es war eine Reihe unguter Umstände und privater Probleme, fasst der Sohn ei<?TrVer> nes Eisenbahners und einer Religionslehrerin zusammen. Der gelernte Kellner arbeitete viele Jahre in Bozner Lokalen, ehe er sich hauptberuflich der Pflege seiner Eltern widmete. Als diese starben, verkaufte er die Wohnung und zog nach Rotterdam in den Niederlanden. „Ich arbeitete dort und führte ein normales Leben, kein Luxusleben.“ Doch es lief nicht nach seinen Vorstellungen, und so fand er sich 2018 zurück in Bozen wieder: ohne Dokumente, ohne Bankomatkarte, ohne Smartphone, ohne Bleibe. Seine sozialen Kontakte wieder aufzubauen, fiel ihm schwer, Arbeit fand er mit Beginn der Pandemie nicht mehr, sein Bruder hatte inzwischen selbst Familie. „Er half mir zwar nach Möglichkeit, aber ich bin keiner, der um Hilfe fragt“, sagt Zanellini, und zog sich immer mehr zurück. „Ich habe mich geschämt und wollte keine Menschen treffen, die mich kennen, und schon gar nicht betteln gehen“, gibt er ehrlich zu. Sein neues Zuhause wurde fortan die Guntschnapromenade im Stadtteil Gries. <?Uni SchriftWeite="96ru"> „Ich schlief auf einer der Sitzbänke<?_Uni> und später auf zwei Matratzen ganz oben im Wald. Ich dachte mir, wenn mich die Polizei verjagen will, muss sie zumindest ein Stück wandern“, lächelt er.<BR /><BR />Doch die Jogger am Morgen, die Anrainer und die Versorger einer Katzenkolonie dort störten sich nicht an dem Obdachlosen. Im Gegenteil. Einige brachten sogar Sanitärartikel vorbei und hatten ein gutes Wort übrig. „Ich will nicht sagen, dass es in Bozen so etwas wie Solidarität gibt, aber doch ein Minimum an Verständnis, wenn man sich gut benimmt“, so der ehemalige Penner. Feindseligkeiten habe er in seinen gut drei Jahren auf der Straße nie erlebt, ebenso wenig wie Beschimpfungen oder Vorurteile. „Gerade von älteren, ängstlicheren Menschen hätte ich mir die erwartet. Doch ich hatte immer Kater ‚Yellow‘ dabei, und sie wussten wohl, dass ich kein Böser sein kann, wenn ich eine Katze im Arm halte.“ <h3> Eine Katze als „Wärmflasche“ bei Minusgraden</h3>Der Kater aus einer Katzenkolonie wurde mit den Jahren Zanellinis Begleiter und wärmte ihn sogar nachts im Schlafsack. „Ich trug bei Temperaturen um die minus zehn Grad mehrere Schichten Kleidung. Trotzdem: Abends hatte ich manchmal Angst, dass ich am Morgen nicht mehr aufwache.“<BR /><BR />Die Kältezentren der Stadt hat der Bozner trotzdem gemieden. Zu viel Chaos, Diebstahl, Substanzen und böse Menschen, sagt er zusammenfassend. „Die Stadt tut, was sie kann“, doch er zog es vor, seine Ruhe zu haben – und nahm dafür so manche Frostbeule in Kauf. Krank sei er aber in den ganzen drei Jahren auf der Straße nie gewesen, nicht einmal ein Schnupfen habe ihn gestreift, sagt der 55-Jährige. Sein Glück. Denn wer nicht gesund und fit sei, überlebe längerfristig nicht, weiß er. <h3> Fußmärsche und Zeitungen gegen Langeweile</h3>Seinen Tag verbrachte der Bozner darum – nachdem er zum Frühstück bei den Kapuzinern oder Franziskanern war – am liebsten mit Fußmärschen. An manchen Tagen waren es 20 bis 30 Kilometer. „Ich hatte irgendwann Unterschenkel wie ein Sportler“, muss er selbst lachen. Die Bewegung half nicht nur gegen die Kälte, sondern auch gegen Langeweile – ebenso wie das Lesen von ausgemusterten Zeitungen aus Bars oder von alten Büchern. Doch der Großteil des Tages war gefüllt mit der Aufgabe, Essen zu beschaffen. War der Hunger lähmend stark und nichts greifbar, füllte er seinen Magen mit Wasser und träumte von „Spaghetti con Acciughe“ <I>(Anm.: Sardellen)</I>. „Wenn die Gedanken genährt werden, wird der Hunger kleiner“, erzählt er von einer der Überlebensstrategien, die er sich im Laufe der Jahre angeeignet hat. Schließlich war es an manchen Tagen nur eine weiße Semmel, die zum Leben reichen musste. An guten Tagen aber gab es auch etwas Süßes: „Weil ich immer in den Abfalleimern vor einer Bar und einem Supermarkt gewühlt habe, legten mir die Mitarbeiter dort irgendwann ein Säckchen mit Lebensmitteln vom Vortag in den Müllkübel.“ <BR /><BR />Auf die Toilette hingegen ging Zanellini am liebsten bei einer Bibliothek oder im Wald, und anstelle einer warmen Dusche gab es ein Kneipp-Bad im Brunnen auf der Promenade. „Bei Sommergewittern seifte ich mich manchmal ein und wartete, bis der Regen alles abwusch“, schmunzelt der Ex-Penner. <h3> Dank „Gutmenschen“ zurück ins normale Leben</h3>Im Regen stehen gelassen und von der Welt vergessen aber fühlte er sich nie. „Klar gab es Tage, an denen der Optimismus verschwand. Doch ich versuchte, stark zu bleiben; denn wer sein Selbstmitleid in Substanzen ertränkt, ist verloren“, weiß Zanellini. Er jedoch wollte sein Leben wieder ändern, als gescheitert oder gefallen fühlte er sich trotz seines ärmlichen Daseins nie. Und so lebte er in den Tag, in den Monat, in das Jahr. Jeder Tag glich dem anderen, es gab kein Wochenende, kein Weihnachten, aber es gab immer mehr Menschen um ihn herum, die es gut mit ihm meinten. <BR /><BR />Einer davon war Paul Tschigg. Der pensionierte Unternehmer hat den Verein „housing first Bozen EO“ mitgegründet. „2021 griff er mich auf und fragte, ob ich nicht in das neue Nachtquartier ‚Dormizil‘ kommen möchte. Martina Schullian – ebenfalls Mitbegründerin des Vereins – stellte mich 2022 dann hier bei sich in der Gärtnerei an. Ich bin diesen Menschen unendlich dankbar“, sagt der Mann, der dank dieser engagierten Menschen im Juli 2022 eine eigene Mietwohnung bezogen hat und einer geregelten Arbeit nachgeht, bei der er aufblüht. „Keiner meiner Arbeitskollegen hier hat mich je von oben herab behandelt oder mir <?Uni SchriftWeite="96ru"> das Gefühl gegeben, der ‚Barbone‘<?_Uni> zu sein“, sagt Zanellini. Das stärke das Selbstvertrauen und helfe, langsam wieder den Kontakt zu alten Freunden zu suchen. Auch mit Judo möchte er beginnen, und in der Rente unbedingt seine Verwandten in Australien und in den USA besuchen.<BR /><BR />Momentan aber denkt Max nur von heute auf morgen, das habe ihn die Straße gelehrt, sagt er. Genauso wie die Genügsamkeit und Demut, mit der er heute lebt. „Mein größter Luxus ist es, täglich frisch einkaufen zu gehen. Ich suche immer die besten Angebote“, erzählt der Bozner und lacht. Manchmal ist auch ein Leckerli für „Yellow“ dabei. Der Kater lebt noch immer in der Katzenkolonie an der Guntschnapromenade. <?Uni SchriftWeite="95ru"> Doch während der Schnurrer wohl<?_Uni> im letzten seiner sieben Leben angekommen ist, fühlt sich Max wie neugeboren. Endlich kann er das machen, was für viele selbstverständlich, doch für ihn besonders ist: „Spaghetti con Acciughe“ in der eigenen Küche zubereiten.