Corona und kein Ende in Sicht: Bei vielen Menschen wächst die seelische Belastung von Woche zu Woche. Sie sind niedergeschlagen, müde, depressiv. Das einfach aussitzen, ist das völlig Falsche, sagt Martin Fronthaler, Leiter des Therapiezentrums Bad Bachgart in Rodeneck. Er ermutigt, die Hilfsangebote zu nützen. <BR /><BR /><BR /><i><BR />Interview: Evi Schmid</i><BR /><BR /><b>Herr Fronthaler im ersten Corona-Lockdown haben Sie vorhergesagt, dass die aktuelle Verunsicherung zu vielen Irritationen und mehr Anfragen um psychotherapeutische Hilfe führen wird. Hat sich ihre Annahme bestätigt?</b><BR />Martin Fronthaler: Ja. Die Leute sind erschöpft, haben – auch wegen der ständigen Corona-Nachrichten – Zukunftsängste. Es hat sich aber das Phänomen ergeben, dass viele versuchen, allein mit dieser heiklen Situation zurecht zu kommen. Das ist einerseits gut. Andererseits: Je länger jemand wartet, Hilfe zu suchen, umso größer ist das Risiko, dass sich Depressionen, Ängste, Zwänge und Abhängigkeiten chronifizieren. Die Anfragen um psychotherapeutische Hilfe sind nach wie vor gegeben. Unsere Sorge im Netzwerk Psychischer Gesundheit aber ist, dass die Leute – vielleicht aus Scham heraus – zu lange warten, Hilfe zu suchen. <BR /><BR /><b>Das bedeutet… ? </b><BR />Fronthaler: Dass in einem halben Jahr eine Menge Patienten auftauchen, die sich in einer chronifizierten Situation wiederfinden. Denn bei all diesen Störungsbildern, vor allem bei der Depression, macht ein Aussitzen wollen die Situation umso schlimmer. Es gilt der Appell, keine falsche Scham zu zeigen und die angebotene Beratung zu nutzen.<BR /><BR /><b>Gespräche mit neutraler Person</b><BR /><BR /><b>Wann sollte man das tun?</b><BR />Fronthaler: Patienten berichten immer wieder, dass sie nicht wissen, mit welchen Anliegen sie in ein psychologisches Beratungsgespräch gehen sollten. Sie seien ja nur verunsichert, aber noch nicht wirklich krank. Gerade hier sind auslenkende Gespräche mit einer neutralen Person sehr wichtig – und wenn es nur am Telefon stattfindet. Das heikelste Phänomen ist der soziale Rückzug, das In-sich-Zurückziehen. Hier gilt: Lieber mit einem Therapeuten grübeln als allein.<BR /><BR /><b> Also nehmen vor allem depressive Störungen zu?</b><BR />Fronthaler: Wir sprechen von Anpassungsstörungen. Sie erfüllen die Kriterien einer Depression, kombiniert mit Ängsten und Zwängen. Es melden sich oft auch Mütter junger Erwachsener, zuweilen Studenten, die verzweifelt sind über die Situation an der Schule oder Uni und sich in die Parallelwelt der Computer flüchten. Sie verlieren oft die Alltagsstruktur. Im Sinne der Prokrastination (Dinge vor sich herschieben; Anm. der Redaktion) werden Seminararbeiten aufgeschoben, dabei geht das Vertrauen in sich verloren.<BR /><BR /><b>Sind Spiel- und Computersucht gleichzusetzen?</b><BR />Fronthaler: Das sind 2 vergleichbare Prinzipien. Das eine ist die Sucht nach Glücksspielen, das andere die Abhängigkeit von unterschiedlichen Online-Angeboten, auch Videospielen. Das Ausweichen auf Plattformen hat wie das Glücksspiel zugenommen. Die Spielekonsole ist, wie der PC und Laptop, immer verfügbar.<BR /><BR /><embed id="dtext86-47547950_quote" /><BR /><BR /><b>Ebenso wie Facebook & Co. </b><BR />Fronthaler: Ja, sich dort aufzuhalten, auch das hat zugenommen. Hier erfährt man eine schnelle Entspannung. Auf Dauer führt das zu einem Automatismus. Der Griff zum Handy oder PC wird zur Verlegenheitsgelegenheit, um kurzfristig abzuschalten.<BR /><BR /><b>Eine Verhaltensweise, die sich nicht zu einer psychischen Störung entwickeln muss, aber dennoch den Alltag beeinflusst?</b><BR />Fronthaler: Genau. Es sind Verhaltensweisen, die ein bestimmtes Potential haben, ein Störungsbild zu werden, die Lebensqualität schmälern. Wie gesagt, viele sind innerlich zerknirscht. Auch wenn es noch kein Störungsbild ist, lieber früher als später darauf reagieren. Die psychologischen Dienste sind ständig erreichbar. <BR /><BR /><b>Gibt es auch einen positiven Aspekt an der Corona-Krise?</b><BR />Fronthaler: Ich glaube, dass die Menschen sehr taff mit der Situation umgehen. Sie versuchen, sich zu informieren, soziale Kontakte zu pflegen, auch fantasievoll an die Dinge heranzugehen. Viele haben verstanden: Je strukturierter ich den Alltag gestalte, umso besser. Sie haben zu einem gewissen Punkt gelernt, gut mit der seelischen Belastung umzugehen. Viele nutzen die Zeit auch, um neue Pläne zu schmieden. Vor allem aber haben wir gelernt, wie wichtig unsere Werte hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen sind.<BR /><BR /><b>Viele, die Angehörige an Corona verloren haben, durften nicht Abschied nehmen. Kommen auch Menschen zu Ihnen, die Hilfe beim Trauern brauchen?</b><BR />Fronthaler: Es gibt Patienten, die aktuell aufgrund dieser Trauerreaktion in Bad Bachgart aufgenommen sind. Sie sind mit dieser Art des Abschieds nicht zurecht gekommen und brauchen eine Auszeit, um mit ihrer individuellen Katastrophe umgehen zu lernen. Hier muss man Rituale finden, auf Momente zurückgreifen, in denen es letzte Kontakte mit dem Verstorbenen gab. Die Coronakrise erzeugt eine Stimmung der Machtlosigkeit, die immer zu Ängsten führt. Insofern ist es wichtig, die Idee aufrechtzuerhalten, dass man sich irgendwie beteiligen kann: ob mit Impfung, Maskenpflicht oder dem Kontakthalten zu anderen, die sich schwerer tun. Das Gefühl ‚ich kann helfen‘ ist Gold wert.<BR /><BR /><b>Hinweis: Das Netzwerk Psychohilfe Covid 19 ist rund um die Uhr erreichbar: Tel. 0471 43 50 01; 0473 25 10 00; 0474 58 62 20, 0472 81 31 00.</b><BR /><BR />