Im Interview mit s+ erklärt Biostatistiker Markus Falk, was die hohen Coronazahlen in Südtirol ausgelöst hat, warum er seine Prognosen aktuell fast täglich anpassen muss und warum es keine gute Idee ist, die Krankheit jetzt einfach durchlaufen zu lassen.<BR /><BR /><b>Herr Falk, die Coronazahlen in Südtirol kennen im Moment nur eine Richtung: nach oben. Ist ein Ende in Sicht?</b><BR /><BR /><b>Markus Falk:</b> Die Zahlen werden in den kommenden ein bis 2 Wochen mit Sicherheit noch weiter steigen. Wir werden wohl nicht jeden Tag 3000 Neuinfizierte haben, aber auf jeden Fall klar über 1000. Auch über 4000 Neuinfektionen an einem Tag sind in Südtirol durchaus vorstellbar. Es kommt jetzt darauf an, wer schneller ist: Wir mit dem Testen und der Isolation der Infizierten oder das Virus, das weitere Menschen ungehindert anstecken kann. <BR /><BR /><b>Anfang Dezember hatten Sie noch mit deutlich niedrigeren Zahlen für Südtirol gerechnet…</b><BR /><BR /><b>Falk:</b> Wir haben damit gerechnet, dass die Zahlen Mitte Dezember zurückgehen. So ist es auch eingetreten. Aktuell sind die Zahlen aber rund 4 Mal so hoch, wie wir damals angenommen haben, weil wir von anderen Voraussetzungen ausgegangen sind. Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir unsere Prognosen nicht anpassen müssen – leider stets mit Korrekturen nach oben. Gewöhnlich ist es kein gutes Zeichen, da die Daten offenbar nicht alles beschreiben und somit auch keine verlässlichen Voraussagen zulassen. Man muss beispielsweise bedenken, dass wir nur begrenzte Testkapazitäten haben. Das heißt, möglicherweise ist das Virus bereits viel weiter verbreitet als wir wissen. . So meldeten heute 112 von 116 Gemeinden Fälle. Ein weiterer Rekord. Einzelne Prognosen gehen daher sogar von rund 8000 Neuinfektionen pro Tag aus.<BR /><BR /><embed id="dtext86-52327402_quote" /><BR /><BR /><b>Wie ist dieser rapide Anstieg zustande gekommen?</b><BR /><BR /><b>Falk:</b> Ausschlaggebend ist mit Sicherheit die hoch ansteckende Omikron-Variante. In der Zeit kurz vor Weihnachten konnten wir bei den Omikron-Fällen in Südtirol einen Rt-Wert von 4 beobachten. Das bedeutet, dass ein Infizierter 4 weitere Personen angesteckt hat. . Mit den Fällen, die bereits im Lande waren, hätte man aber dennoch nicht dieses hohe Niveau erzielen können. Rückgerechnet zeigt sich, dass hierfür aber bereits 500 importierte Omikron-Fälle reichten. Dieser Umstand unterstreicht, wie wichtig die Tests bei der Einreise waren. Vielleicht wären sonst 5000 oder gar noch mehr Fälle importiert worden. Einen ähnlich hohen Rt-Wert konnten wir auch in der Zeit direkt nach den Feiertagen und Silvester beobachten. Hier ist sicher der Grund bei den Menschen zu suchen, die sich vermehrt getroffen haben und dabei nicht immer getestet waren oder sich an die Abstands- und Hygieneregeln gehalten haben. So konnte sich die Omikron-Variante im Land rasant ausbreiten und beschert uns die Zahlen, die wir aktuell haben. Dazu kommt aber auch, dass der Gemeinschaftsschutz verloren gegangen ist. Die Impfung schützt zwar weiterhin gut vor einem schweren Verlauf, aber nicht mehr so gut vor einer Infektion durch Omikron. Bei vielen Menschen ist die zweite Impfung zudem schon zu lange her, sodass der Schutzfaktor deutlich nachgelassen hat. . Nur frisch Geimpfte oder Geboosterte sind vor einer Omikroninfektion halbwegs sicher.<BR /><BR /><b>Bisher steigen die Zahlen der Krankenhauspatienten nicht im selben Maße wie die jene der Infizierten. Wird das so bleiben?</b><BR /><BR /><b>Falk:</b> Das ist im Moment leider nur sehr schwer vorherzusehen. Die Situation in den Krankenhäusern steht auf Messers Schneide und ganz wenige Prozentpunkte entscheiden hier. Im Herbst war ich mir sicher, dass die Impfquote in Südtirol reichen wird, um einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. Mit Omikron stehen wir jetzt aber vor einer gänzlich neuen Herausforderung und wir wissen nur, dass 2 Dinge helfen: nämlich die Boosterung und die Maske. Auch wenn das Impfwochenende im Dezember enorm wichtig war, muss weiterhin geboostert werden, denn allein die Boosterungen entscheiden darüber, ob das Gesundheitssystem dem Druck durch das Virus standhalten kann. Bei den über 50-Jährigen sind in Südtirol aktuell knapp 50 Prozent geboostert, bei den über 60-Jährigen liegen wir bei etwa 70 Prozent – wenn wir Glück haben, geht sich das aus. Daten aus England zeigen möglicherweise bereits auf, dass eine hohe Boosterungsrate die Fälle zum Einbrechen bringen kann und die Krankenhäuser absichert. Genaueres wird man für Südtirol in ein bis zwei Wochen wissen. Wir befinden uns gerade an einem Wetterumbruch sozusagen. Die ersten Tropfen sind bereits gefallen, aber der Vollregen wird erst noch kommen. Daher sind wir gut beraten, weiterhin vorsichtig zu bleiben: Maske tragen und Booster abholen, sobald es nur geht. Wenn wir die Krankheit jetzt laufen lassen, dann rennen wir ins offene Messer.<BR /><BR /><embed id="dtext86-52327404_quote" /><BR /><b><BR />„Wenn die Wissenschaft hofft, können andere Disziplinen nur noch beten“ – damit haben Sie eine düstere Prognose abgegeben…</b><BR /><BR /><b>Falk:</b> Wenn wir keine Daten haben, die uns klare Antworten über den weiteren Pandemieverlauf geben, dann bedeutet das, dass wir anfangen müssen zu hoffen. In solchen Momenten kann man dann leider nicht ausschließen, dass die Entwicklung irgendwo endet, wo wir nicht landen wollen. <BR /><BR /><b>Was ist jetzt wichtig, damit die Situation nicht außer Kontrolle gerät?</b><BR /><BR /><b>Falk:</b> Jetzt sollte es darum gehen, dass wir festlegen: Wann ist der Point of no return? Wir wissen, dass die Belegung in den Krankenhäusern steigen wird, wir wissen aber noch nicht, wie stark. Deshalb müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wann der Punkt erreicht ist, an dem wir „Stopp“ sagen müssen, weil wir sonst in eine Situation geraten, in der wir die Versorgung nicht mehr gewährleisten können. Wir müssen festlegen, wo die Grenze ist, die wir nicht überschreiten dürfen. Leider müssen wir hier auf Sicht fahren, weil uns niemand genau sagen kann, wo das Riff oder die Sandbänke sind. Die Situation ist ernst, aber noch nicht katastrophal und wir können sie im Griff behalten, wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen und zwar jeder einzelne von uns. Bei 3000 Fällen am Tagen schrillen aber die Alarmglocken, denn wir bewegen uns hier in einer Dimension, in der wir schnell die Kontrolle verlieren können. Wenn wir den „Point of no return“ verpassen und die Krankenhäuser überfüllt werden, dann wird auch kein Weg an einem harten Lockdown vorbeiführen. Viele Südtirol haben verstanden, dass nun Vorsicht geboten ist und wir benötigen niedrigere Zahlen, um sicher sein zu können, dass die aktuelle Anzahl der Geboosterten reichen wird, um einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. Deshalb bleibt auch der Wissenschaft manchmal nur die Hoffnung und die Zuversicht, dass man dies schafft.