Mit zunehmendem Alter werden bei weiblichen Mäusen Gene auf dem ursprünglich stillgelegten zweiten X-Chromosom aktiv. Dieser Mechanismus könnte auch die Gesundheit von Frauen im Alter beeinflussen.<BR /><BR />Anders als Männer, die ein X- und ein Y-Chromosom besitzen, tragen Frauen zwei X-Chromosomen in ihren Zellen. Allerdings ist in jeder Zelle eines der beiden X-Chromosomen gewissermaßen stillgelegt.<BR /><BR /> Es schnürt sich zu einer kompakten Struktur, dem Barr-Körperchen, zusammen und kann nicht mehr abgelesen werden. Ohne diesen Mechanismus würden die Gene des X-Chromosoms bei Frauen im Vergleich zu Männern doppelt abgelesen.<BR /><BR />Schon seit einiger Zeit ist bekannt, dass einige Gene der Stilllegung des Barr-Körperchen entkommen können, was zu einer höheren Genaktivität bei Frauen führt. Diese stehen im Verdacht, Krankheiten zu beeinflussen. „Wir haben jetzt erstmals nachgewiesen, dass mit zunehmendem Alter immer mehr Gene der Inaktivierung des Barr-Körperchens entkommen“, sagt Dr. Daniel Andergassen, Gruppenleiter am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der TUM. Die Studie ist im Fachmagazin „Nature Aging“ erschienen.<h3> Im Alter lockert sich das inaktive X-Chromosom</h3>Für die Studie hat das Team die wichtigsten Organe von Mäusen in verschiedenen Lebensabschnitten untersucht. Bei den alten Tieren lag der Anteil der entkommenen Gene im Durchschnitt doppelt so hoch wie bei erwachsenen Tieren – bei sechs statt drei Prozent der Gene auf dem X-Chromosom. In einigen Organen lag der Wert sogar noch höher, in den Nieren etwa bei knapp neun Prozent. <BR /><BR />„Durch epigenetische Prozesse öffnet sich im Alter nach und nach die kompakte Struktur des inaktiven X-Chromosoms. Das geschieht hauptsächlich an dessen Enden. Dadurch können Gene, die dort liegen und zuvor abgeschaltet waren, wieder abgelesen werden“, erläutert Erstautorin Sarah Hoelzl.<h3> Insbesondere Gene mit Krankheitsbezug werden reaktiviert</h3>Viele der Gene, die im Alter wieder aktiv werden, sind mit Krankheiten assoziiert. „Unsere Daten stammen zwar von Mäusen, aber da das X-Chromosom beim Menschen sehr ähnlich ist, gehe ich davon aus, dass bei alternden Frauen das Gleiche passieren könnte“, sagt Studienleiter Dr. Andergassen. Ob dies der Fall ist und welche Auswirkungen die reaktivierten Gene auf Krankheitsentwicklungen genau haben, müssen zukünftige Studien zeigen. <BR /><BR />Die verglichen mit Männern doppelte Genaktivität bei Frauen kann aus Sicht der Forschenden in manchen Fällen positive Auswirkungen haben, in anderen negative. ACE2, eines der Gene, das im Alter in der Lunge entkommt, kann unter anderem Lungenfibrosen eingrenzen. Eine vermehrte Aktivität des Gens TLR8 im Alter könnte dagegen bei Autoimmunerkrankungen wie dem spät einsetzenden Lupus eine Rolle spielen.<h3> Alternative Erklärung für Geschlechtsunterschiede bei Krankheiten</h3>„Geschlechtsunterschiede in Bezug auf Krankheiten im Alter sind ein hochkomplexes Thema. Bei der Suche nach Erklärungen hat sich die Wissenschaft bislang auf Unterschiede im Hormonhaushalt oder beim Lebensstil konzentriert“, sagt Dr. Andergassen. „Zwar wurden auch die Rolle des X-Chromosoms und einzelner entkommener Gene bereits untersucht, doch die Entdeckung, dass viele Gene auf dem inaktiven X-Chromosom im Alter wieder aktiv werden, eröffnet völlig neue Perspektiven. Diese Erkenntnis könnte als Alternative zu hormonellen Erklärungen dazu beitragen, altersbedingte Unterschiede bei Krankheiten zwischen den Geschlechtern besser zu verstehen – vielleicht sogar zu der ganz grundlegenden Frage, warum Frauen statistisch gesehen länger leben.“<BR /><b> <a href="https://www.nature.com/articles/s43587-025-00856-8" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Hier geht es zur Veröffentlichung.</a></b><BR /><BR /><b>Zur Person</b><BR />Dr. Daniel Andergassen ist Gruppenleiter am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der TUM. Dort untersucht den Einfluss des nicht-kodierenden Genoms auf Erkrankungen. Um dies besser zu verstehen, verbindet er bioinformatische und experimentelle Wissenschaftsmethoden. Außerdem geht er der Frage nach, welchen Einfluss Geschlechtschromosomen auf die geschlechtsspezifischen Verläufe von Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1177008_image" /></div> <BR /><BR />Ein besonderes Augenmerk wird hier auf jene Gene gelegt, die der weiblichen X-Chromosom Inaktivierung entgehen können und deren Gen-Dosis somit in Frauen (XX) höher ist verglichen mit Männern (XY). Um den molekularen Mechanismus für die Geschlechtsunterschiede bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen systematisch aufzuklären, wertet das Andergassen-Labor den Einfluss von Geschlechtschromosomen und Hormonen quantitativ aus.<BR /><BR /> Ziel dieser Forschung ist es, neue geschlechtsspezifische Regulationsmechanismen von Krankheiten zu identifizieren, um RNA-basierte Therapien für geschlechtsspezifische Behandlungen zu entwickeln.<BR /><BR />Dr. Andergassen erwarb 2012 sein Diplom in Molekularbiologie an der Universität Wien. Anschließend promovierte er unter der Leitung von Denise Barlow, einer treibenden Kraft der Epigenetik. In ihrem Labor, am Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM), erstellte er die umfassendste Karte der allelspezifischen Expression in der Maus, einschließlich der Identifizierung aller geprägten Gene. <BR /><BR />Dafür entwickelte er eine bioinformatische Pipeline, welche Sequenzierdaten nutzt, um allelspezifische Expression zu detektieren. Um mehr über epigenetische Regulation zu erfahren, wechselte er als Postdoktorand nach Harvard (HSCI) in das Labor von John Rinn und Alexander Meissner, wo er sich auf die Erforschung von X-chromosomalen lncRNAs mit geschlechtsspezifischen Merkmalen konzentrierte. Außerdem gelang es ihm mithilfe seines allelspezifischen Ansatzes den Mechanismus von geprägter Gene genomweit aufzudecken.<BR /><BR /> Seit 2020 leitet er eine unabhängige Nachwuchsgruppe an der Technischen Universität München am Institut für Pharmakologie und Toxikologie mit dem Ziel, den Einfluss des nicht-kodierenden Genoms und der Geschlechtschromosomen auf Krankheiten zu verstehen.