Im Interview spricht er über die Verbreitung von Sekten in Italien, Gefahren, Einfluss von Covid, seelische Narben und wie man den Ausstieg schafft.<BR /><BR /><b>Was charakterisiert eine Sekte, wie verbreitet ist das Sektenwesen in Italien?</b><BR />Michele Piccolin: Eine Sekte ist eine pyramidenförmig aufgebaute Organisation, mit einem Anführer oder Guru an der Spitze, gefolgt von wenigen ausgewählten Getreuen, und darunter die breite Basis an Mitgliedern. Diese Gruppen folgen einer Lehre, die nicht jener der Mehrheit der Gesellschaft entspricht – das kann politischer, philosophischer oder religiöser Art sein. Laut Daten von Sektenbeobachtungsstellen dürften italienweit etwa 1000 sektenartige Organisationen aktiv sein, mit rund einer Million Mitgliedern, darunter viele Frauen und Kinder.<BR /><BR /><b>Das sind viele, worauf könnte es zurückzuführen sein?</b><BR />Piccolin: Unsere Gesellschaft ist darauf ausgerichtet, materielle Bedürfnisse zu befriedigen, scheint aber nicht imstande zu sein, zufriedenstellende Antworten auf alle spirituellen Fragen zu geben. Dieses Vakuum nutzen Sekten aus. Besonders empfänglich sind Menschen, die sich in einer schwierigen Lebenslage befinden, denen Zuwendung fehlt oder die kürzlich ein seelisches Trauma erlitten haben. <BR /><BR /><b>Inwieweit könnte sich Corona auf die Anfälligkeit für Sekten ausgewirkt haben?</b><BR />Piccolin: Sekten brauchen keine Pandemien, um zu existieren. Sicherlich können aber alle Faktoren, die ängstigen und verletzbar machen, Menschen dazu bringen, Antworten bei einer Sekte zu suchen. Man kann schon sagen, dass Covid Urängste geweckt und rationale Überlegungen zurückgedrängt hat – indirekt ein guter Nährboden für Sekten. <BR /><BR /><b>Was erleben Sektenmitglieder auf psychischer Ebene?</b><BR />Piccolin: Sie sind einem fortschreitenden Manipulationsprozess unterworfen, der sie dazu bringt, alle Brücken zu Familie und Freunden abzubrechen und sich zusehends mit der Sekte zu identifizieren. Diese gaukelt ihnen Sicherheit und die Lösung ihrer Probleme vor, während sie die Mitglieder aber schrittweise in die Isolation treibt, was eine totale Kontrolle über sie ermöglicht. <BR /><BR /><b>Wie ist der Ausstieg aus einer Sekte zu schaffen?</b><BR />Piccolin: Ganz wichtig ist, dass Betroffene dabei psychologisch von einem Fachmann unterstützt werden. Wer im Verdacht steht, aussteigen zu wollen, ist nicht selten Repressalien ausgesetzt, das kann von Nahrungsentzug, Missachtung der Privatsphäre über Hypnose und Bestrafung bis zu Bedrohung und Erpressung reichen. Angstzustände, Panikattacken, posttraumatische Belastungsstörungen oder Paranoia können die Folgen sein. Ebenso können seelische Narben bei unfreiwilligen Opfern von esoterischen Ritualen zurückbleiben – auch sie sollten sich professionelle Hilfe holen.