Dabei spannt Moling einen weiten Bogen bis zur Antike, denn schon dort war man der Auffassung, dass Menschen unterschiedliche Ansprüche haben. Somit gelte es, Rechte und Pflichten sowie Früchte und Lasten in einer Gesellschaft „angemessen“ zu verteilen. Dieses Spannungsverhältnis muss allerdings beständig neu austariert werden. <BR /><BR /><b>Gerechtigkeit umfasst viele Aspekte, so etwa die Chancengerechtigkeit, die Leistungsgerechtigkeit, die Generationengerechtigkeit, die Einkommensgerechtigkeit und nicht zuletzt die Justiz. Wie blicken Sie als Philosoph auf Gerechtigkeit?</b><BR />Prof. Markus Moling: Was den Ursprung des Begriffes anbelangt, denke ich an die griechische Philosophie zurück. Für Platon war Gerechtigkeit das Ideal, um das Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen im Staat zu gestalten, während Aristoteles sie neben Klugheit, Tapferkeit und Mäßigung zu den 4 Kardinaltugenden zählte. Wobei schon bei den griechischen Philosophen Gerechtigkeit nicht so verstanden wurde, dass jedem gleich viel zusteht. <BR /><BR /><BR /><b>Sondern?</b><BR />Moling: Es galt bereits in der Antike die Vorstellung, dass die Ansprüche der Menschen unterschiedlich sind, weil sie in unterschiedlichen Situationen leben. Jedem Bürger soll das zugeteilt werden, was ihm gebührt. Der große amerikanische Denker John Rawls formulierte Grundsätze, nach denen Rechte und Pflichten wie auch Früchte und Lasten in einer Gesellschaft angemessen verteilt werden sollen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="997363_image" /></div> <BR /><b>Warum ist das noch heute von Bedeutung?</b><BR />Moling: Es hat mit unserer Auffassung zu tun, dass die Gemeinschaft einen Mehrwert darstellt. Der Mensch hat erkannt, dass ein gut organisiertes Miteinander ein besseres Leben ermöglicht, als wenn jedes Individuum seine eigene Interessen erfolgt. Vor allem die Wahrung von Grundrechten, was etwa den Zugang zu Bildung, die freie Berufswahl, das Wahlrecht oder die gerechte Zuteilung von Ressourcen betrifft, sind von zentraler Bedeutung. <BR /><BR /><BR /><b>Inwieweit wird unsere heutige Gesellschaft diesen Idealen gerecht?</b><BR />Moling: Die Ideale der Gerechtigkeit wurden schon immer arg strapaziert. So wird etwa in totalitären Staatsformen alles der Gemeinschaft untergeordnet, während in unseren westlichen Gesellschaften das andere Extrem zu beobachten ist: Das Individuum verliert immer mehr das Gemeinwohl aus dem Blick. Dabei tragen wir alle Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Sehr wohl gibt es in Südtirol dafür eine große Sensibilität. <BR /><BR /><BR /><b>Wie meinen Sie das?</b><BR />Moling: Sehr viele Südtiroler engagieren sich ehrenamtlich in Vereinen und bringen sich mit ihren Fähigkeiten und in unterschiedlichen Rollen zum Wohle einer Gemeinschaft ein. Gerade dieses Vereinswesen liefert wichtige Impulse, um den Gemeinsinn aufrecht zu erhalten. <BR /><BR /><BR /><b>Wie wichtig ist denn Gerechtigkeit zur Wahrung des sozialen Friedens?</b><BR />Moling: Gerechtigkeit ist auf jeden Fall eine wesentliche Komponente für den sozialen Frieden – im Großen wie auch im Kleinen. Werden Menschen von Ressourcen abgeschnitten oder wird ihnen verwehrt, menschliche Grundanliegen zu verwirklichen, dann werden sie sich wehren. <BR /><BR /><b>Idealvorstellungen über Gerechtigkeit variieren von Epoche zu Epoche und von Volksgruppe zu Volksgruppe. Letztlich hat jeder Mensch einen unterschiedlich ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Wie kommt das?</b><BR />Moling: Es gibt kein Gesetzbuch, nach dem wir uns richten können. Gerechtigkeit muss immer wieder aufs Neue austariert und neu ausverhandelt werden. Es geht darum, die Mitte bzw. das rechte Maß zu definieren. Natürlich hat die Tugend der Gerechtigkeit auch eine emotionale Seite. <BR /><BR /><b>Wird deshalb oft vergessen, dass wir doch eine Reihe von Schritten hin zu einer gerechteren Gesellschaft gemacht haben?</b><BR />Moling: Das ist sicherlich eine Erklärung. Ausgehend von der freien Berufswahl und dem Zugang zur Bildung bis hin zum Wahlrecht für alle wurden in den vergangenen Jahrzehnten riesige Fortschritte erzielt. Gerade der Schule kommt die Aufgabe zu, diese Errungenschaften und Entwicklungen wachzuhalten und auf deren Bedeutung hinzuweisen.<BR />