Im ausführlichen Gespräch informiert die Bereichsleiterin des Zentrums „Il Germoglio – Der Sonnenschein“ von „La Strada – Der Weg“ in Bozen über Ursachen, Auffälligkeiten und wie wichtig es ist, nicht einfach tatenlos zuzuschauen.<BR /><BR /><b>Frau De Paoli, Gewalt an Minderjährigen wird hierzulande ziemlich selten thematisiert. Welche Dimension hat dieses Problem?</b><BR />Cristina De Paoli: Es ist sicherlich schwieriger an reinen Daten festzumachen als andere Gewaltphänomene. Es gibt keine einheitliche Erhebung, einzig die Anzahl von Anzeigen könnte man ins Feld führen. Allerdings wäre das ein großer Trugschluss, denn die Dunkelziffer ist in dieser Hinsicht immer besonders hoch, außerdem ist es schwierig genau festzumachen, wo Gewalt gegen Minderjährige beginnt. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="963679_image" /></div> <BR /><BR /><BR /><b>Hat das Phänomen nach Ihren Erfahrungen zugenommen?</b><BR />De Paoli: Es hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen, wenngleich es verhältnismäßig wenig sichtbar ist. Wir sind schließlich in unserer täglichen Arbeit damit beschäftigt, haben Kontakt mit Opfern und deren Angehörigen, um ihnen zu helfen.<BR /><BR /><b>Welche Beobachtungen machen Sie?</b><BR />De Paoli: Ein wichtiger Punkt sind die verschiedenen Formen der sexualisierten Gewalt im Internet, das ist komplett außer Kontrolle geraten. Es geht hier beispielsweise um das Herumschicken von Nacktfotos, hierbei fehlt den Heranwachsenden oft selbst das nötige Bewusstsein. Dieses ist aber noch nicht ausgeprägt. Leider kümmern sich zu viele Erwachsene nicht darum, was Kinder mit ihrem Smartphone oder Tablet so machen. Ein anderes häufiges Problem ist die Vernachlässigung von Kindern, auch das ist eine Form von Gewalt. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="963682_image" /></div> <BR /><BR /><b>Wie zeigt sich diese Vernachlässigung von Kindern?</b><BR />De Paoli: Einerseits ist ein Mangel an Obhut feststellbar, denn es streifen viele Heranwachsende durch die Straßen. Sie werden einfach sich selbst überlassen. Wenn man genauer hinschaut, merkt man, wie sehr viele Eltern mit sich selbst und ihrem eigenen Alltag beschäftigt sind. Für ihre Kinder sind sie dann emotional nicht mehr zugänglich. Ganz generell fehlt es in unserer Gesellschaft immer mehr an Vorbildern und klaren Verhaltensregeln. Das bringt mit sich, dass es Kindern und Jugendlichen an Halt und Orientierung mangelt. Wenn sie sich selbst überlassen werden, dann kann das ausarten und beispielsweise zu Mobbingsituationen führen. Man müsste einfach öfter und besser hinschauen. <BR /><BR /><b>Wie wirkt sich erlebte Gewalt in der noch nicht vollständig entwickelten jugendlichen Psyche denn aus?</b><BR />De Paoli: Schläge oder sexueller Missbrauch können lebenslange Schäden nach sich ziehen. Sehr schlimm ist psychische Gewalt, wenn man etwa erniedrigt und gedemütigt wird. Das hat oft zur Folge, dass die Opfer in einem unseligen Geflecht aus Unsicherheit, Unvorhersehbarkeit und Instabilität aufwachsen. Das ist etwa auch bei erlebter häuslicher Gewalt der Fall, wenn man Zeuge von Schlägen oder Aggressionen im Elternhaus wird. Im Falle von Gewalt in der digitalen Welt ist häufig zu beobachten, dass die Opfer unter einem großen Schamgefühl leiden. Etwa wenn ein schlimmes Foto von ihnen im Netz verbreitet wurde. <BR /><BR /><embed id="dtext86-62178668_quote" /><BR /><BR /><b><BR />Ist das Web als Tatort noch immer unterschätzt?</b><BR />De Paoli: Das ist leider der Fall, ja. Es ist, als ob man den eigenen Kindern nicht beibringen würde, wann man die Straße überqueren kann oder ihnen elementare Verhaltensregeln vorenthält. Sicheres Surfen im Web ist aber in vielen Elternhäusern kein Thema, entweder weil es nicht interessiert, weil man damit überfordert ist oder weil man es einfach unterschätzt. Als Verein „La Strada – der Weg“ machen wir viel Aufklärung in Schulen. Wir erklären, wie man sich im Alltag vor Gewaltsituationen schützen kann, sowohl real als auch online. Hier ist aber unsere Gesellschaft grundsätzlich gefragt. Es ist nicht richtig, wenn man diese Aufgabe den Schulen zuschieben möchte. Diese Aufsicht können sie nicht übernehmen.<BR /><BR /><b>Bräuchte es also mehr Zivilcourage?</b><BR />De Paoli: Das große Problem heute ist diese Gleichgültigkeit. Es greift niemand ein. Dabei ist es so wichtig hinzuschauen, sich zu kümmern und bei Bedarf Unterstützung zu holen. Kinder und Jugendliche können sich oftmals nicht selbst helfen, umso notwendiger ist das Hinsehen und gegebenenfalls das Einschreiten von Erwachsenen. Wenn man merkt, dass etwas nicht stimmt, sollte man hingehen und vorschlagen: Reden wir drüber. Sag mir, was los ist. <BR /><BR />