<b>Die tatsächliche Gleichstellung von Frau und Mann… Wie viel fehlt noch auf dem Weg dorthin? Und in welchen Bereichen besonders?</b><BR /><BR />Brigitte Hofer: Rechtlich haben wir sie eigentlich erreicht, an der alltäglichen Gleichstellung müssen wir noch arbeiten. Der Bereich Arbeit ist zentral, denn hier sichert sich Frau die finanzielle Unabhängigkeit ab. In Südtirol beträgt der Gender Pay Gap, also der Abstand zwischen dem Entgelt der Männer und dem der Frauen, 17 Prozent. Davon müssen wir runter, auch indem Frauen nicht in Teilzeit gezwungen werden, Teilzeit sollte eine freie Entscheidung sein. Weiters sind die neuen EU-Richtlinien von 2023/970 zur Lohntransparenz sobald als möglich umzusetzen, z.B., indem in der Veröffentlichung der Arbeitsanzeigen das Gehalt angegeben wird.<BR /><BR /><BR /><b>Nehmen wir den Bereich der Politik, nach einem internationalen Report fehlen bis zur Gleichstellung beim derzeitigen Tempo 169 Jahre... und die Entwicklung geht sogar in die andere Richtung. Was muss sich da tun?</b><BR /><BR />Hofer: Demokratie meint Beteiligung. Diskriminierung ist von unserer Verfassung verboten. Frauen in ihrer Vielfalt müssen sich angemessen an politischen Entscheidungsprozessen beteiligen können. Doch auch nach fast 80 Jahren Frauenwahlrecht in Italien gibt es strukturelle und institutionelle Hürden für Frauen in der Politik, wie die fehlende Vereinbarkeit von Amt, Familie und Beruf, die politische Kultur und die Auswahl- und Nominierungsprozesse in den Parteien. Die Realität ist aber, dass immer mehr Frauen politisch engagiert sind, und immer mehr Frauen sich politisch engagieren wollen. Wir konnten in den vergangenen Jahren immer mehr Frauen für die Politik gewinnen, die somit auch ein Vorbild für uns sind. Die Gesellschaft ist bereit, Frauen zu wählen, auch Südtirol. Eigentlich gibt es keine Ausreden mehr, Frauen nicht zu wählen, bzw. sie nicht in den politischen Entscheidungsprozessen miteinzubeziehen. <BR /><BR /><BR /><b>Karrierechancen, gerechte Aufteilung der Haus- und Pflegearbeit, gleiche Entlohnung, Medizin für Frauen – die Themen sind derart vielfältig – haben sie alle die gleiche Ursache?</b><BR /><BR />Hofer: Eine Ursache ist in den vorgeschriebenen Geschlechterstereotypen zu suchen. Das Wort Geschlechterstereotype wird oft benutzt, aber was wird damit eigentlich gemeint? Lassen sie es mich es ihnen kurz ausführen: Geschlechterstereotype beschreiben die Eigenschaften, Fähigkeiten, Verhaltensweisen und das Aussehen, die wir von Personen erwarten, weil wir sie als Frau oder Mann wahrnehmen. Sie verallgemeinern Menschen und können in verschiedenen Lebensbereichen wie der Arbeitswelt, der Gesundheitsversorgung oder dem Privatleben negative Konsequenzen für Betroffene haben. Für eine moderne und offene Gesellschaft ist es notwendig, Geschlechterstereotype in Frage zu stellen. Sie sind ein Korsett für uns alle. Simone Beauvoir schrieb: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Dies gilt auch für Männer. Die sozialen Konstrukte definieren, was es bedeutet, Frau und Mann zu sein. Ich sehe meine Aufgabe in Bewusstseins- und Sensibilisierungsarbeit für mehr Gleichberechtigung in der Arbeitswelt. Die Hindernisse, wie auch die Geschlechterstereotype, sind ein grundlegendes kulturelles Problem. <BR /><BR /><BR /><b>Im Alltag als Gleichstellungsrätin haben Sie es aber häufig mit einem ganz bestimmten Problem zu tun?</b><BR /><BR />Hofer: Ja, die Gleichstellungsrätin ist Anlaufstelle für Diskriminierung aufgrund des Geschlechts wie z.B. Mutterschaft, Vaterschaftsurlaub, Elternzeit, sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz und Mobbing am Arbeitsplatz. Auch Unternehmen kontaktieren die Gleichstellungsrätin, um Beratungen zu den Themen der Diskriminierung und Mobbing in Anspruch zu nehmen.<BR /><BR /><BR /><b>Wie können Sie helfen?</b><BR /><BR />Hofer: Gemeinsam mit der Person in absoluter Privacy, wenn gewollt auch anonym, wird entschieden, wie das Problem mittels einer Informationseinholung, Beratung, Schlichtung oder Mediation gelöst werden kann. Ziel ist es meistens die Arbeitsplatzerhaltung.<BR /><BR /><BR /><b>Unterm Strich ist aber der Job meist weg, bzw. die Frauen wollen dort gar nicht mehr arbeiten. Eigentlich nicht die ideale Lösung?</b><BR /><BR />Hofer: Die Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Ja, z.B. bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz wollen Frauen absolut nicht mehr zum Arbeitsplatz zurück.<BR /><BR /><BR /><b>Gerade in diesem Bereich dürfte die Dunkelziffer ziemlich hoch sein?</b><BR /><BR />Hofer: Ja, ich glaube das auch. Seit 1. Mai habe ich 7 Fälle an sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betreut. Laut ISTAT-Daten von 2022 bis 2023, haben 1,9 Millionen Frauen zwischen 15 und 70 Jahren eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren. Von denen haben nur 2,3 Prozent eine Justizbehörde und 2,1 Prozent eine andere offizielle Institution kontaktiert. Die Gründe sind: Scham- und Schuldgefühle, Angst nicht ernst genommen zu werden oder Angst dass die Karriere unterbrochen wird. <BR /><BR /><BR /><b>Wieso fühlt Frau sich “schuldig“ oder schämt sich, obwohl dafür überhaupt kein Grund vorliegt?<BR /></b><BR />Die Frage habe ich mir auch gestellt: Warum haben Frauen Scham- und Schuldgefühle, wenn sie eigentlich die Opfer sind? Die Täter hingegen sehen eine Schuld, haben aber keine Schuld- und Schamgefühle. In der Beratung versuche ich die Frauen zu entlasten und versuche ihnen klar zu machen, dass sie keine Schuld haben. Dies löst meistens Tränen der Erleichterung aus. Ich habe zu diesem Thema recherchiert, und es gibt eigentliche keine eindeutigen Antworten dazu. Laut Studien liegt ein Grund darin, dass das Gewaltereignis dermaßen unerklärlich ist und als wahres Trauma erlebt wird, dass Frauen die Schuld an sich suchen, um sich eine Erklärung zu geben. Dies ist glaube ich eine nachvollziehbare Erklärung, dazu kommt, dass es ein historisches kulturelles Problem ist, im Sinne, dass das Patriarchat seit eh und je der Frau eine Schuld zuweist, und da fängt es bei Eva und dem Apfel an. Weiters dürfen wir nicht vergessen, dass in Italien „sexuelle Gewalt“ erst seit 1996 ein Delikt gegen die Person und nicht mehr nur ein Delikt gegen die öffentliche Moral deklariert wurde. Hier ist noch viel Arbeit an Sensibilisierung, Selbstwahrnehmung und Aufklärung zu sexualisierter Gewalt zu leisten.<BR /><BR /><BR /><b>Kann man und vielleicht muss man hier in der Erziehung etwa über die Schule gegensteuern?</b><BR /><BR />Hofer: Es ist absolut wichtig, schon in der Schule und zu Hause das Konzept der Wichtigkeit der Chancengleichheit und Nicht-Diskriminierung in allen Bereichen einzuführen. Es gibt sehr interessante professionelle pädagogische Konzepte zu den Themen, diese sollten weiterhin mit Überzeugung eingesetzt und aufgebaut werden. Leider werden uns auch viele gewalttätige, sexualisierte und sexistische Bilder über die sozialen Medien, Filme und Werbung vermittelt. Wir tragen hier alle eine Verantwortung. Auch das Unternehmen, das sich für eine sexistische Werbung entscheidet, um ein bestimmtes Produkt zu verkaufen. Nur wenn wir hier entgegenwirken, und sich jede/r zuerst mal die Frage stellt, ob etwas ethisch vertretbar ist oder nicht, nur so werden wir zu einer modernen Gesellschaft wachsen, wo Mädchen und Frauen wirklich gleichberechtigt und nicht diskriminiert werden.<BR /><BR /><BR /><b>Wie sieht Ihre ideale Zukunft für unsere Gesellschaft aus?</b><BR /><BR />Hofer: Aus meiner Sicht sieht eine ideale Zukunft vor, dass Mädchen und Frauen vollkommen gleichberechtigt, respektiert und wertgeschätzt werden und es hierzu keine Zweifel und Unsicherheiten mehr gibt. Dieses Prinzip gilt für alle, doch sind es Mädchen und Frauen, die am meisten Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts am Arbeitsplatz und Leben erfahren. Aus diesem Grund müssen wir sie schützen und fördern. Die gesamte Gesellschaft hat hier eine Verantwortung, all jene Hürden und Vorurteile abzubauen, die zu Diskriminierung beitragen und sich dafür mit Entschlossenheit einsetzen.