Im Interview erklärt er, was in Stresssituationen jeglicher Art hilft, was er selbst gegen Stimmungstiefs unternimmt und wie nützlich „ein Fingerzeig von außen“ sein kann. <BR /><BR /><b>Wir leben in herausfordernden Zeiten und haben belastende Jahre hinter uns. Merken Sie in Ihrer Arbeit, dass diese Zeiten bedrücken? Suchen mehr Menschen Hilfe?</b><BR />Dr. Roger Pycha: Ja, an unserer Psychiatrie im Krankenhaus in Brixen haben wir 25 Prozent Patienten mehr als 2019. Bei allen Psychotherapeuten gibt es zunehmende Wartezeiten. Der gute Teil der Nachricht: Italien, von der Pandemie als erster europäischer Staat am stärksten getroffen, investiert mehr in die psychische Gesundheit der Bevölkerung, und Betroffene suchen viel unbefangener Hilfe. Das gilt auch für Südtirol. <BR /><b><BR />Wen belasten diese Zeiten am meisten? </b><BR />Dr. Pycha: Die Leidtragendsten sind wohl viele Jugendliche und Heranwachsende, die Orientierungsarmut zusammen mit wachsendem Krisenbewusstsein und Krisenstress spüren – in der Ausbildung, wirtschaftlich und was Umwelt und Klima angeht. Auch sehr alte Menschen sind betroffen, sie waren 2 Jahre lang besonders isoliert in Heimen, sind auch oft einsam verstorben. <BR /><BR /><b>Sie haben die Jugendlichen genannt. Wie geht es eigentlich Kindern in Zeiten wie diesen?</b><BR />Dr. Pycha: Kinder orientieren sich in Krisenzeiten besonders stark an ihren Eltern und an der Schule, am Verhalten der Gleichaltrigen. Sie lernen auch schnell um und können positive Gefühle gut übernehmen und zeigen. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern, die Schule, Erwachsene allgemein auch Optimismus an den Tag legen und verbreiten. Es ist wichtig, dass Kinder viel spielen dürfen: Spielerisch waren Masken und Nasenflügeltests für sie eher ein neues Lernfeld als ein Trauma. Unsere Kinder werden die Pandemie-Zeit mehrheitlich gut verdauen und sind eingestimmt auf eine Zukunft mit mehr Fürsorge für den gesamten Planeten. <BR /><BR /><b>Haben Sie einen Tipp für Menschen, die sich in diesen Zeiten gestresst und belastet fühlen: Wie bleibt man zuversichtlich? </b><BR />Dr. Pycha: Gegen Stress praktizieren wir alle sehr gekonnt 3 Strategien zu verschiedenen Zeiten: Ruhepausen und Erholung – alles von Schlaf bis Wellness und Relaxen –, Ablenkung – alles von Freundschaften bis Hobbys –, Aktivierung für Wichtiges – alles von politischer Diskussion bis Freiwilligeneinsatz und Spendenbereitschaft. Das ändert den Stress und lässt ihn leichter bewältigen. Verleugnung allein wird hingegen weniger helfen. <BR /><BR /><b>Was ist Ihr persönliches „Geheimrezept“ – immerhin haben auch Experten auf dem Gebiet der Psyche hin und wieder Krisen. Ihr Kollege Rudolf Schöpf läuft, was machen Sie?</b><BR />Dr. Pycha: Ich laufe ihm gewissermaßen nach, nur bin ich Minimalist und wollte genau wissen, wie viel Bewegung unbedingt notwendig ist, um psychisch stabil zu bleiben. Es gibt eine wissenschaftliche Antwort: 5- bis 6-mal in der Woche 30 Minuten Jogging ohne Atemnot bei leichtem Schwitzen. Gerade bin ich deutlich unter dieser Grenze, aber ich weiß es zumindest. Ich versuche deshalb anderes Hilfreiches, wie regelmäßige Treffen mit guten Freunden, erbauliche Lektüre, Kaffeepausen mitten im harten Job. Auch Heilungserfolge helfen mir sehr.<BR /><BR /><b>Ängste und Niedergeschlagenheit kennt mitunter jeder. Wie viel ist „normal“ und ab wann wird es kritisch?</b><BR />Dr. Pycha: Der Leidensdruck ist ausschlaggebend. Wenn es 2 Wochen lang ununterbrochen nur mehr Grau-Schwarz gibt, wenn Sorgen zum Grübelzwang werden, weil man nicht mehr abschalten kann, wenn Ängste sich zur Panik, also Todesangst steigern oder den ganzen Alltag bis in kleine Ereignisse hinein belasten, dann sollte ich selbst etwas unternehmen. Der erste Schritt ist: Mich anderen anvertrauen. Der zweite: Ratschläge anwenden, wenn sie mich überzeugen. Der dritte: Der Gang zu Experten – Psychologen und Psychiatern – ist keine Schande, sondern ein Zeichen von Intelligenz und Zivilcourage. Hier sind die Frauen etwas weiter als Männer.<BR /><b><BR />Erkennt man es immer selbst, dass man nicht mehr von einem vorübergehenden Stimmungstief reden kann, sondern sich helfen lassen sollte? Oder müssen das Außenstehende erkennen und ansprechen?</b><BR />Dr. Pycha: Der eigene Eindruck ist entscheidend, aber oft schämt man sich seiner „Schwäche“ und verdrängt. Da kann ein Fingerzeig von außen sehr nützlich sein. Angehörige und Freunde dürfen ihre Sorge äußern und Beobachtungen beisteuern. Noch besser ist, wenn sie aus Fürsorge heraus dem geschwächten Betroffenen etwas abnehmen, zum Beispiel den Termin beim Experten besorgen. Das ist die Nächstenliebe des 21. Jahrhunderts.<BR /><BR /><b>Sie haben die Scham angesprochen. Hat sich in diesem Bereich in den vergangenen Jahren nicht sehr viel getan? Ist es für zu viele immer noch schwer, sich psychische Probleme einzugestehen und Hilfe zu holen? </b><BR />Dr. Pycha: Wir sind auf dem ausgezeichneten Weg, uns um unsere Psyche mehr und mehr zu kümmern, weil daraus vorteilhaftes Verhalten entsteht. Das gilt weltweit, aber für Italien als von der Pandemie sofort stark betroffenes Land besonders. Die Pandemie hat gezeigt, dass uns günstiges Verhalten schwierige Zeiten besser überstehen lässt, bei Befolgung der Regeln auch leichter überleben lässt.<BR /><BR /><b>Neben Krieg, Teuerungen und Existenzängsten kommt jetzt eine Zeit, die für viele die schönste Zeit im Jahr, für andere aber sehr belastend ist: Advent und Weihnachten. Welchen Tipp haben Sie für jene, die den nächsten Wochen mit Sorgen entgegensehen?</b><BR />Dr. Pycha: Ich rate dazu, Weihnachten und die Feierlichkeiten gut zu planen, und auch Planänderungen im Voraus zu akzeptieren. Der Zeitgeist gibt es vor: Schenken wir uns weniger teure Apparate, sondern mehr Zuneigung und gemeinsam verbrachte Zeit, zelebrieren wir die Feste, und achten wir darauf, Einsame einzubeziehen. Selbst Frieren geht gemeinsam leichter. <BR /><BR /><b>„Viel mehr als Traurigkeit“ nennt sich Ihr kürzlich erschienenes Buch über Depression. Wer sollte es lesen?</b><BR />Dr. Pycha: Leider ist die Depression für Frauen heute schon die wichtigste Krankheit der Welt. In wenigen Jahren, bis spätestens 2030, haben Männer das aufgeholt. Jeder sechste bis fünfte Mensch auf der Welt macht im Laufe seines Lebens eine Depression mit. Und jede Depression zieht durchschnittlich 6 Personen in enge Mitleidenschaft. Deshalb ist der Kreis der möglichen Interessierten an dem Thema groß. Das Buch ist verständlich geschrieben, enthält Fallbeispiele, neueste Wissenschaft, aber auch viel persönliche Erfahrung. Es soll heilen helfen und Gefährdete besser schützen.