In folgendem Interview erzählt er von seinem geradezu unglaublichen Fluchtweg und was er da alles erlebt hat: brutale Gewalt, Todesangst, Ausbeutung, Abschiebung – aber auch hilfreiche Menschen.<BR /><BR /><BR /><b>Herr Kydoe Sarr Ibrahima, wie war Ihr Leben in Gambia, bis Sie als 20-Jähriger beschlossen haben, Ihr Land zu verlassen?</b><BR />Ibrahima Kydoe Sarr: Ich hatte eine gute Kindheit. Ich konnte zur Schule gehen und war auch recht gut, aber mein großer Traum war immer, Profifußballer zu werden. Aufgewachsen bin ich bei meiner Oma, weil meine Eltern nach England ausgewandert sind, als ich 2 Jahre alt war. Sie haben uns immer Geld geschickt. <BR /><BR /><b>Sie gehören der Volksgruppe der Serer an, die nur 2,8 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Wurdet ihr von der Mehrheit diskriminiert und war das ein Grund, warum Sie geflohen sind?</b><BR /> Kydoe Sarr: Nein, ich wurde nie wegen meiner Angehörigkeit zu einer Minderheit oder wegen meiner Sprache und Kultur verfolgt. Meine Fluchtgründe waren ganz andere – wir lebten damals vor 8 Jahren in einer Diktatur, es gab Menschenrechtsverletzungen, Wahlbetrug und Putschversuche. Die Wirtschaft lag am Boden und alle jungen Menschen wollten weg. Ich setzte mir in den Kopf, nach Italien zu gehen und Profifußballer zu werden. <h3> Der Traum vom Fußball-Profi in Italien</h3><b>Sie sind von Libyen auf einem Flüchtlingsboot nach Italien gekommen. Aber wie haben Sie die 3500 Kilometer Luftlinien von Gambia nach Libyen geschafft?</b><BR />Kydoe Sarr: Am Landweg mit dem Bus waren es natürlich viel mehr Kilometer und ich war 5 Monate unterwegs. Ich hatte viel zu wenig Geld für die Reise. Bei der Busfahrt musste man an jeder Grenze den Beamten Geld geben. Und ich hatte mit Senegal, Mali, Burkina Faso, Niger, Algerien und Libyen 7 Grenzen zu überqueren. Ich musste immer wieder meine Reise unterbrechen und als Tagelöhner arbeiten. Dann wurden unsere Kleinlaster immer wieder von Banden aufgehalten. Denen musste man für die Weiterfahrt wieder zahlen, und wir wurden geschlagen und viele wurden auch verschleppt. <BR /><BR /><b>Von Libyen aus starten viele Schlepperboote übers Mittelmeer nach Italien. Wie haben Sie es von Tripolis nach Sizilien geschafft?</b><BR />Kydoe Sarr : Ich musste zuerst das Geld für die Überfahrt erarbeiten. Ich habe 3 Monate lang jeden Job gemacht, bis ich die umgerechnet 500 Euro für die Überfahrt beieinander hatte. In der Praxis läuft es dann so, dass sogenannte Agenten in Tripolis rumlaufen, die einem sagen, wann das nächste Boot fährt und was es kostet. Ich hatte den Eindruck, dass die libysche Polizei eng mit den Schleppern zusammenarbeitet. Als es losging, waren wir 54 Personen, darunter 8 Frauen und 6 Kinder. Das war im Juli 2014. Nach 8 bis 10 Stunden auf See war das übervolle Gummiboot so leck, dass wir kurz davor waren, unterzugehen. Wir hatten Todesangst, bis uns ein Handelsschiff gerettet, versorgt und nach Agrigento gebracht hat.<BR /><BR /><embed id="dtext86-56265925_quote" /><BR /><BR /><b>Ihr habt zum Glück alle überlebt, wie ging es weiter?</b><BR />Kydoe Sarr: Wir kamen in ein Flüchtlingslager in der Nähe von Agrigento. Dort wurde ich registriert, wegen meiner Fluchtgründe einvernommen und der Fingerabdruck genommen. Die italienischen Behörden haben uns ordentlich behandelt, aber wir hatten nichts zu tun. Es gab keine Hilfsorganisationen, keine Arbeit, kein Italienischkurs. Natürlich kam es auch zu Gewalt unter den Flüchtlingen. Die tägliche Routine war, um 5 Uhr in der Früh am Arbeitsstrich in Agrigento zu sein. Ich stand immer bei demselben Kreisverkehr mit vielen anderen, und bis 7 Uhr haben uns meist Bauern abgeholt, um dann bei der Wein- oder Olivenernte zu helfen. 20 bis 25 Euro bekamen wir durchschnittlich am Tag. <BR /><BR /><b>Wie ging es Ihnen damals? Sie haben ja von einem besseren Leben und einer Fußballerkarriere geträumt.</b><BR />Kydoe Sarr: Natürlich habe ich mir, naiv wie ich war, ein ganz anderes Leben in Europa erwartet. In Gambia hatte ich für unsere Verhältnisse ein gutes Leben – Arbeit, Freunde, Sport – alles, was einem Jugendlichen wichtig ist. Und dann 2 Jahre auf Sizilien zum Nichtstun verurteilt und keinerlei Perspektive. Und als politischer Flüchtling konnte und wollte ich auch nicht zurück. Aber mein sprichwörtlicher Dickkopf ließ sich nicht unterkriegen. Also fuhr ich per Bus – natürlich illegal – nach Deutschland. Über Como, Schweiz bis Mannheim. Zum Glück ganz ohne Grenzkontrollen. In Mannheim habe ich mich sofort bei der Polizei gemeldet und aus politischen Gründen um Asyl angesucht. Dann kam ich wieder in ein Flüchtlingsheim in Kirchheim unter Teck in der Nähe von Stuttgart in Baden-Württemberg. Dort war ich 6 Monate, aber es ging mir viel besser. Es gab freiwillige Helfer, eine Bibliothek und Deutschkurse.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="816728_image" /></div> <BR /><BR /><b>Also endlich eine Perspektive für ein neues Leben?</b><BR />Kydoe Sarr: Ja, anfangs schon. Wir waren 70, 80 Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrer, Iraker, Eritreer, Somali und Menschen aus der ganzen Welt, natürlich auch aus Gambia und Senegal. Da ich schon über 20 Jahre alt war, konnte ich keine Schule besuchen und ich musste mir das Geld für den Kurs selbst verdienen. Da ich schnell Deutsch lernte und bald mal auf über A 1 Niveau kam, konnte ich als Mediator zwischen der Gemeinde und den Flüchtlingen arbeiten. Wir organisierten Feste, Kochabende und sonstige Treffen, damit sich Einheimische und Migranten besser kennen lernen. Da ging es mir erstmals richtig gut, ich habe sogar eine Wohnung mit 4 anderen Flüchtlingen gefunden. Aber dann nach 9 Monaten der negative Bescheid. Wegen des Dubliner Abkommens musste ich zurück ins Erstaufnahmeland, wo ich meinen Asylantrag gestellt habe, also nach Italien. Untertauchen, wie es viele andere machen, wollte ich nicht. <BR /><BR /><b>Wie läuft die Rückführung konkret ab?</b><BR />Kydoe Sarr: Da war nichts organisiert, zumindest bei mir nicht. Nach dem negativen Bescheid bin ich in den Flixbus gestiegen und wieder nach Agrigento gefahren, wo ich bei einem Freund aus Gambia wohnen konnte. Aber auf Sizilien gab es wieder keine Arbeit und keinerlei Unterstützung. So hat sich Mutters Dickkopf wieder in den Kopf gesetzt, zurück nach Deutschland zu gehen. So habe ich es gemacht. Meine deutschen Freunde wollten mich dann nach Italien vermitteln – eher im Norden, wo es Arbeit gibt. Zuerst war Brescia im Gespräch, dann kam jemand auf Bozen, weil mein Deutsch so gut ist. <BR /><BR /><embed id="dtext86-56265926_quote" /><BR /><BR /><b>Ihre deutschen Freunde haben Sie also Bozen vermittelt?</b><BR />Kydoe Sarr: Nein, sie kannten zwar Südtirol, wussten aber auch nicht, an wen ich mich wenden sollte. Zum Glück war es im Sommer, und so schlief ich den ersten Monat auf der Straße oder auf den Talferwiesen. Ich habe mich gleich bei der Caritas gemeldet, aber die hatten auch keine Schlafstellen. Später konnte ich mich in einem Flüchtlingsheim zumindest duschen. Schlussendlich durfte ich dank Elmira Cola von Binario 1 vier Monate in einem Flüchtlingsheim bleiben. Meine Betreuer halfen mir, dass ich einen Deutschkurs auf der Uni beginnen konnte und meine erste Arbeit bei der Apfelernte bekam. Dann hatte ich das Glück, den Pastor Michael Jäger kennen zu lernen, der mir einen Schlafplatz für 5 Monate bei der evangelischen Kirche verschaffte. Gleichzeitig fand ich eine Arbeit bei einem Holzbetrieb in Deutschnofen und endlich konnte ich Fußball spielen.<BR /><b><BR />Sie haben dann beim FC Bozen trainiert?</b><BR />Kydoe Sarr: Ja, aber nur kurz. Ohne Kontakte und Zeit ist es schwierig, und für einen Profifußballer war ich schlussendlich auch schon zu alt. Aber ich hatte beim Fußballspielen wieder Glück und lernte Hannes Huber kennen, der mir half, eine Wohnung zu finden. Hannes und seine Eltern haben mir geholfen, sodass ich für einen Monat etwas in Kardaun bekam. Dann hat mich die Tante von Hannes bei sich in Oberbozen zuerst für 2 Wochen auf Probe aufgenommen. Aus 2 Wochen sind 3 Jahre geworden, und ich bin Brigitte Tutzer und ihrem Sohn Andi unendlich dankbar für ihr Vertrauen. Seit einem Jahr lebe ich allein in Bozen in einem Zimmer mit Küche und Bad. Fußball ist immer noch meine große Leidenschaft – nach Zwischenstationen in Haslach und Ritten spiele ich jetzt beim SSV Leifers in der Landesliga.<BR /><BR /><b>Seit 1. März 2021 arbeiten Sie bei der Eurac. Wie sind Sie dorthin gekommen?</b><BR />Kydoe Sarr: Während meiner Zeit am Ritten konnte ich am Kaserhof mit Lamas und Alpakas arbeiten. Dazu gehörten auch Reiten und Lama-Touren mit Kindern. So habe ich auch deren Eltern kennen gelernt. Und die haben mich an die Eurac vermittelt, wo mich Direktor Stephan Ortner als Hausmeister angestellt hat. Inzwischen fühle mich im Team rund um Chef Andreas Wiedmer voll integriert. Wir halten das Gebäude in Schuss, richten die Säle für Konferenzen her und versuchen, allen Mitarbeitern und Gästen jeden Wunsch zu erfüllen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="816731_image" /></div> <BR /><b>„D“: Sie sind selbst Vater von 2 Kindern. Möchten Sie abschließend noch darüber sprechen?</b><BR />Kydoe Sarr: Ja, natürlich – die beiden Mädchen sind ja mein größtes Glück. Leider leben sie mit meiner Frau in Gambia, und ich bin ziemlich zerrissen, was ich tun soll. Ich darf offiziell ja nicht zurück in meine Heimat, bin aber zweimal illegal am Landweg über Senegal eingereist. Meine Frau und die Töchter brauchen das Geld, das ich hier verdiene. Meine Frau möchte mit den Kindern unbedingt nach Europa. Aber ich bin nicht sicher, ob das gut ist für sie. Meine Kinder gehen dort zur Schule, haben Freundinnen und sind glücklich. Hier wieder bei 0 anzufangen, in einer ganz fremden Kultur, zu der man nie 100 Prozent gehören wird, auch wenn man sich noch so sehr anstrengt, macht mich sehr nachdenklich. Andererseits brauchen meine Kinder mich und ich möchte mit ihnen sein. Mal schauen, ob Mamas Dickkopf eine Lösung dafür finden wird.