In der Frage der Impfpflicht sind sich selbst die Ethikerinnen und Ethiker nicht mehr einig, sagt der Brixner Theologe. <BR /><BR /><BR /><BR /><b>Papst Franziskus bezeichnet die Impfung als „Akt der Nächstenliebe“: Begeht jemand also eine Sünde, wenn er die Nächstenliebe bewusst verweigert?</b><BR />P. Martin Lintner: In der Ethik unterscheiden wir zwischen dem, was moralisch geboten oder verboten ist, und dem, was darüber hinausgehend freiwillig erbracht wird. Vergleichbar sagt die Kirche auch bei der Organspende, dass sie als Akt der Nächstenliebe zu würdigen ist, auch wenn niemand dazu verpflichtet ist. Vielleicht könnten wir sagen, dass es eine moralische Pflicht gibt, sich mit der eigenen Impfbereitschaft auseinanderzusetzen. Auf dem Hintergrund, dass die Impfung effektiv vor schweren Verläufen schützt und laut Experten längerfristig hilft, die Pandemie zu überwinden, braucht es dann gute Gründe, eine Entscheidung gegen die Impfung zu rechtfertigen. <BR /><BR /><b>Ist jemand also in Ordnung, wenn er oder sie tatsächlich für sich gute Gründe für ein Nein findet?</b><BR />P. Lintner: Eine Verweigerung würde ich nur dann als Schuld bzw. im religiösen Sinn als Sünde beurteilen, wenn jemand bewusst und gewollt gegen besseres Wissen und gegen seine eigene Überzeugung handelt. Wenn jemand also zur Überzeugung kommt, dass seine Argumente gegen die Impfung nicht stichhaltig sind und er sich aus einer Art Trotzhaltung heraus dennoch nicht impfen lässt, obwohl bei ihm keine medizinischen Indikationen dagegen sprechen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-52441175_quote" /><BR /><BR /><b>Kann sich jemand dabei auch auf sein Gewissen berufen und das ablehnen?</b><BR />P. Lintner: Ja. Lassen Sie mich ein Beispiel machen. Da bei den meisten Covid-19-Impfstoffen in einer der Phasen, sei es bei der Entwicklung, Herstellung oder Testung embryonale Stammzellen verwendet werden, die aus früheren Abtreibungen stammen, kann es für manche Menschen aus ethischer Sicht ein unüberwindliches Hindernis sein, sich impfen zu lassen. Auch wenn aus ethischer Sicht durchaus argumentiert werden kann – wie es zum Beispiel die Kirche tut –, dass diese Impfstoffe ethisch vertretbar sind, weil sie weder eine Mitwirkung an einer Abtreibung noch eine Zustimmung zu ihr bedeuten, muss die Gewissensentscheidung respektiert werden. Oder wenn jemand für ihn traumatisierende Erfahrungen mit negativen Nebenwirkungen bei Impfungen gemacht hat und deshalb eine Art Impfphobie entwickelt hat, dann kann ich das nicht ignorieren.<BR /><BR /><b>Ohne Grünen Pass nach Impfung oder Genesung geht inzwischen fast gar nichts mehr. Ist es ethisch vertretbar, dass Ungeimpfte immer mehr Freiheit verlieren?</b><BR />P. Lintner: Eines meiner größten Bedenken in Bezug auf die Maßnahmen gegen die Pandemie war von Anfang an, dass die negativen Folgen dieser Maßnahmen längerfristig sehr schwerwiegend sein werden. Solange die Last dieser Maßnahmen in etwa gleichmäßig auf die Schultern aller Bürger und Bürgerinnen verteilt war, war es weniger ein Problem. Dass jetzt aber den Ungeimpften die Freiheiten nicht sukzessive im vergleichbaren Maß zurückgegeben werden, führt auf der individuellen Ebene zu oft schwierigen, ja dramatischen Situationen, nicht nur mit enormen finanziellen, sondern auch sozialen und psychischen Belastungen für die Betroffenen. Die Eingrenzung von Freiheitsrechten ist in einem Rechtsstaat immer rechenschaftspflichtig – je länger sie dauern, umso so mehr. Die Inkaufnahme von Nachteilen, die begründet sein kann, ist ja nochmal etwas anderes als die Einschränkung von Freiheitsrechten. Wenn Letztere nicht mehr in zumindest vergleichbaren Ausmaß alle Bürger und Bürgerinnen trifft, sondern nur einen Teil und diesen überproportional, dann halte ich das für problematisch. <BR /><BR /><b>Geimpfte können jetzt aber sagen: Wir haben unseren Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie geleistet, daher stehen uns zuerst die Lockerungen zu.</b><BR />P. Lintner: Diese Position der Geimpften ist verständlich. Dennoch ist es problematisch, wenn nicht mehr das Virus, sondern eine Gruppe von Menschen, die Ungeimpften, für die zur Bekämpfung der Pandemie getroffenen Maßnahmen verantwortlich gemacht werden. Hier sehe ich Potential für enormen sozialen Sprengstoff und besonders dafür, den sozialen Zusammenhalt und die Solidaritätsbereitschaft nachhaltig zu schwächen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-52441177_quote" /><BR /><BR /><b>Was halten Sie von einer allgemeinen Impfpflicht wie etwa bald in Österreich?</b><BR />P. Lintner: Diese generelle Impfpflicht ist aus meiner Sicht ein zu schwerwiegender Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte, besonders in das Recht auf körperliche Integrität. Ich muss allerdings hinzufügen, dass die Frage nach der Impfpflicht unter Ethikern und Ethikerinnen, auch im Bereich der Theologie, sehr unterschiedlich diskutiert wird. Manche sehen die Impfpflicht als „ultima ratio“, also als allerletzte Maßnahme, durchaus gerechtfertigt, ja sogar als „Gebot der Stunde“. Die 24 Mitglieder des Deutschen Ethikrates haben zum Beispiel trotz intensiver Debatten keine gemeinsame Position gefunden. Während 4 Mitglieder eine gesetzliche Impfpflicht ablehnen, befürworten 7 lediglich die Ausweitung der berufs- oder einrichtungsbezogenen Impfpflicht auf gewisse Risikogruppen, 13 hingegen befürworten die allgemeine Impfpflicht über Personen über 18. <BR /><BR /><b>Zu welcher Gruppe zählen Sie sich?</b><BR />P. Lintner: Es zeigt sich, dass sich die überzeugten Impfgegner auch durch eine Impfpflicht nicht dazu bewegen lassen, sich impfen zu lassen. Druck erzeugt Gegendruck. Und so können wir auch hier eine Radikalisierung von Positionen beobachten, wo es schon längst nicht mehr um medizinische Fragen geht, sondern um ideologische Auseinandersetzungen, wo neben höchst fragwürdigen politischen Ansichten auch jede Menge Scharlatanerie offene Einfallstore finden.<BR /><BR /><b>Was wäre aus Ihrer Sicht zu tun, um die derzeitigen Spannungen zu überwinden?</b><BR />P. Lintner: Wir sollten wieder zu einem sachlichen Dialog zurückfinden. Die Bewältigung der Corona-Pandemie kann ja – zumindest im ersten Jahr – mit einer Operation am offenen Herzen verglichen werden. Unter den Augen der Öffentlichkeit mussten Experten, angefangen von den Virologen und Epidemiologen, erst das Virus erforschen und effektive Maßnahmen gegen dessen Ausbreitung suchen, fast ein wenig nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“. Das hat dann bei vielen eine Skepsis gegenüber den Wissenschaften und der Politik geschürt, die meines Erachtens aber unbegründet ist. Das Überangebot an Informationen im Internet, bei dem Normalbürger oft nicht unterscheiden konnten, wie seriös und wissenschaftlich stichhaltig sie sind, hat zudem die Unsicherheit bestärkt und manchen die trügerische Sicherheit gegeben, sie seien plötzlich Experten in der Materie. Wir wissen auch, dass ganz gezielt, zum Teil sogar von staatlichen Akteuren wie Russland und China, über die sozialen Medien Falschinformationen verbreitet worden sind mit dem Ziel, bei möglichst vielen Bürgern und Bürgerinnen Misstrauen gegen ihre Regierungen zu schüren. Das ist demokratiepolitisch wirklich bedenklich. Ich wundere mich manchmal, wie unbedacht oder wie blauäugig manche irgendwelche abstruse Theorien oder Ansichten auf ihren Kanälen bei den sozialen Medien teilen, ohne die Quellen zu prüfen, ob sie von Menschen oder Gruppen in die Welt gesetzt wurden, die alles andere als glaub- und vertrauenswürdig sind. Auch sehe ich das Problem, dass viele wie in einer Blase gefangen sind und nur mehr jene Inhalte konsumieren, die ihre eigene Sicht bestätigen. Das hat schon fast eine sektenartige Dynamik. Irgendwie müssten wir einen Weg finden, sie da wieder herauszuholen.<BR /><BR />ZUM WEITERREDEN<BR /><BR />Am <b>Samstag, 22. Jänner</b>, eröffnet P. Martin Lintner die diesjährigen Brixner Theologischen Gespräche unter dem Motto „Dem Reichtum des christlichen Glaubens auf der Spur“. Um 9 Uhr hält P. Lintner an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen ein Referat zum Thema „Corona: Was tun? Medizinethische Fragen“. Am Nachmittag, ab 13.30 Uhr spricht Gottfried Ugolini über „Verantwortlich handeln und vorbeugen – Seelsorge im Umgang mit Betroffenen“. Weitere Termine: 19. Februar, 26. März, 30. April und 21. Mai. Anmeldung und der Grüne Pass sind erforderlich. Weitere Infos unter: www.pthsta.it<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />