<b>Frau Berger, womit befasst sich das noch ziemlich junge Forschungsgebiet der Epigenetik?</b><BR />Jennifer Berger: Kurz erklärt, handelt es sich bei der Epigenetik um eine Art Bindeglied zwischen Umweltfaktoren und dem Erbgut. Unser genetisches Erbe wird bekanntermaßen durch die DNA-Sequenz bestimmt, daneben gibt es noch eine zweite Informationsebene, und das ist der epigenetische Code. Dieser ist flexibel und kann im Gegensatz zur DNA-Sequenz etwa durch Umweltbedingungen, den Lebensstil, die Ernährungsweise oder besonders prägende Erfahrungen verändert werden. Über diesen Code können einschneidende Erfahrungen eine Zeitlang gespeichert und möglicherweise sogar vererbt werden. Dies wiederum erlaubt eine gewisse Anpassung an die Umwelt. Es handelt sich folglich um einen Anpassungsmechanismus. <BR /><BR /><b>Was kann dieser Anpassungsmechanismus denn leisten? </b><BR />Berger: Besonders interessant finde ich, dass bestimmte schwierige Lebensumstände sich nicht nur im epigenetischen Code der Betroffenen selbst abbilden. Mittlerweile weiß man, dass die Lebensbedingungen von schwangeren Frauen Spuren im epigenetischen Code ihrer ungeborenen Kindern hinterlassen. Man glaubt, das dient dazu, die noch ungeborenen Kinder auf diese schwierigen Lebensumstände einzustellen. <BR /><BR /><b>Zum Beispiel?</b><BR />Berger: Wenn schwangere Frauen eine Hungersnot durchleiden, wie es während des Zweiten Weltkrieges in Holland der Fall war, dann verändert sich beim ungeborenen Kind der epigenetische Code. So wird abgespeichert, dass eine Nahrungsknappheit herrscht. Das dient dazu, dass sich das Kind darauf einstellen kann. Somit wird eine Art Notfallprogramm aktiviert, indem beim Kind bestimmte Gene angeschaltet werden. Auf diese Weise können in Zeiten ausreichenden Nahrungsangebotes Energiereserven angelegt werden, also Fettpölsterchen. Das ist als Vorsichtsmaßnahme zu sehen für Zeiten, in denen es mit dem Nahrungsangebot knapp wird. Es handelt sich folglich um einen alten Mechanismus: Das Kind merkt, wenn die Mutter nicht genug zum Essen hat, dann muss es sich ebenfalls darauf einstellen. Wenn es dagegen gut läuft, dann kann es Energiereserven anlegen. Zugleich ist die negative Seite nicht von der Hand zu weisen. <BR /><BR /><b>Welche negative Seite?</b><BR />Berger: Im Zweiten Weltkrieg war die Hungersnot in Holland auf 6 Monate begrenzt, nach der aufgehobenen Blockade der Nahrungsmittelversorgung hat es wieder genug zum Essen gegeben. Doch die Kinder hatten noch immer ihr Notfallprogramm aktiviert und somit zu viele Fettreserven angelegt. Sie wurden übergewichtig und bekamen Krankheiten wie Diabetes. Im Prinzip war es eine überschießende Reaktion. Die Kinder waren also übergewichtig, und man hat sich gefragt: Warum denn nur? So hat man diesen Mechanismus entdeckt. Jedenfalls ist diese Art der Weitergabe von epigenetischen Fingerabdrücken beim Menschen gesichert. Was hingegen die Weitergabe über mehrere Generationen hinweg betrifft, so ist die Studienlage noch dürftig. Zumindest bei Menschen, denn die durchgeführten Versuche bei Mäusen unter kontrollierten Bedingungen sprechen auch hier eine klare Sprache. Sehr wohl haben Epigenetik-Studien interessante Ergebnisse ans Tageslicht gebracht. <BR /><b><BR />Und zwar?</b><BR />Berger: Auch starkes bzw. krankhaftes Übergewicht in der Schwangerschaft schlägt sich im epigenetischen Code der Kinder nieder, es prädestiniert sie ebenfalls zum Übergewicht. Nun hat man die Kinder von Müttern, die sich einer chirurgischen Magenverkleinerung unterzogen haben, miteinander verglichen. Die Kinder, die vor der Magenverkleinerung geboren wurden, waren auch übergewichtig und hatten einen anderen epigenetischen Fingerabdruck als ihre Geschwister, die nach der Magenverkleinerung zur Welt kamen. Auch das Rauchen schlägt sich im epigenetischen Code der Raucherinnen und deren Kindern nieder. Dies wiederum kann bestimmte Gene an- bzw. ausschalten, die zur Entstehung von Krebs führen. Rauchen ist also doppelt schädlich: Durch die toxischen Substanzen einerseits und durch die epigenetischen Mechanismen andererseits. Das ist bereits seit den 1990er-Jahren bekannt und mehrfach bestätigt. Auch zwischenmenschliche Beziehungen oder Stress können den epigenetischen Code beeinflussen.<BR /><BR /><b>Ein paar Schritte weitergedacht, könnte dieser Forschungszweig ein großes Feld öffnen, etwa was Therapien anbelangt. Was ist hierbei denkbar? </b><BR />Berger: Man weiß auf jeden Fall, dass besonders einschneidende Erlebnisse wie Traumata den epigenetischen Code längerfristig verändern können. Zu nennen sind vor allem Kindheitstraumata, diese ziehen die schwerwiegendsten Auswirkungen nach sich. Man weiß, dass dabei Gene betroffen sind, die eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und dem Funktionieren des Gehirns spielen. Dabei ermutigt die Tatsache, dass diese Änderungen im epigenetischen Code teilweise wieder rückgängig gemacht werden können, und zwar durch die gängigen Therapien. Dabei handelt es sich beispielsweise um Psychotherapie oder die Gabe von Antidepressiva.<BR /><BR /><b>Dadurch werden also die anerkannten Behandlungsmethoden bestätigt?</b><BR />Berger: Genau. All das zeigt, dass die gängigen Ansätze, etwa Traumatherapien, tatsächlich auf molekularer bzw. epigenetischer Ebene wirken. Ich denke, die Medizin ist hier allemal auf dem richtigen Weg. Bei Kindern aus zerrütteten Familien können sich diese epigenetischen Fingerabdrücke zumindest teilweise löschen lassen, wenn man sie aus ihrer problematischen Umgebung herausnimmt und sie in einem wohlwollenden Umfeld aufwachsen lässt. Je früher bei einem Kindheitstrauma die Therapie gemacht wird, umso besser wirkt sie auf molekularer Ebene. Die Schlussfolgerung ist klar: Die traumatisierten Menschen sollten relativ schnell die notwendigen Therapieangebote zur Verfügung gestellt bekommen. <BR /><BR /><b>Schwachpunkte?</b><BR />Berger: Auch in der Wissenschaft gibt es Trends, und die Epigenetik ist jetzt durchaus als trendy einzustufen. Manchmal finden dann eben auch schlechtere Studien Beachtung, mitunter kommt es zu Überinterpretationen und zudem gibt es immer Leute oder Trittbrettfahrer, die versuchen, mit solchen Trends Geschäfte zu machen. So gibt es bereits epigenetische Diäten, die mit dieser Bezeichnung teuer verkauft werden. In der seriösen Wissenschaft sind dagegen gute und abgesicherte Studien das Um und Auf. <BR /><b><BR />Soeben wurde der Evolutionsforscher Svante Pääbo für seine bahnbrechenden Thesen in der Paläogenetik mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Ein Zeichen, dass sich auf dem breiten Forschungsgebiet der Genetik derzeit richtig viel tut?</b><BR />Berger: Ja, das lässt sich damit erklären, dass nun die Methodik in der Genetik und Molekularbiologie so weit fortgeschritten ist, um auch sehr komplexe Fragen beantworten zu können. So hat man in den vergangenen 10 Jahren stärkeres Augenmerk gelegt auf den epigenetischen Code als Brücke zwischen Umwelt und menschlichem Erbgut. Im Prinzip wird die vor rund 80 Jahren aufgestellte Hypothese, dass Gene und Umwelt gemeinsam das Erscheinungsbild eines Lebewesens formen, erst jetzt so richtig untersucht.<BR /><BR /><b>Wie kam es, dass Sie zur Epigenetik geforscht haben? </b><BR />Berger: Im Zuge meiner Diplomarbeit an der Uni Innsbruck habe ich gezeigt, dass ein gewisses Tumorsuppressorgen – also Gene, die die Zellvermehrung kontrollieren und somit der Tumorbildung vorbeugen – im Brustkrebs-Gewebe ausgeschaltet ist. Daraufhin bin ich im selben Labor im Rahmen meiner Dissertation der Frage nachgegangen, warum dieses Kontrollgen ausgeschaltet ist. Am naheliegendsten wäre eine Mutation gewesen, was aber nicht der Fall war, und schließlich sind wir auf die Lösung gestoßen: epigenetische Mechanismen. Schließlich konnte ich nachweisen, dass epigenetische Mechanismen dieses Suppressorgen ausgeschaltet hatten. Als ich damals die entsprechende Methode etabliert habe, gab es im deutschen Sprachraum nur 3 Gruppen, die diese Methode beherrschten. Im Jahr 2000 habe ich promoviert und wollte dann im Bereich der Epigenetik weiterforschen. <BR /><BR /><b>Dann ging es nach Schottland?</b><BR />Berger: Ja, dort gab es viele Forschungsgruppen, die sich dem Thema widmeten. Einer der Mitbegründer der Epigenetik, Sir Adrian Bird, forscht in Schottland, ich hatte das Glück, in seinem Labor arbeiten zu können. Insgesamt lebte ich 5 Jahre in Edinburgh, das erste Jahr war ich am Roslin-Institut tätig, wo ich auch das famose geklonte Schaf Dolly kennenlernte. Am Roslin-Institut arbeitete ich an den Auswirkungen des Klonens am epigenetischen Fingerabdruck, danach betrieb ich 4 Jahre Grundlagenforschung im Labor von Professor Bird. <BR /><BR /><b>Trotzdem sind Sie wieder nach Südtirol zurückgekehrt, wo es auf diesem Fachgebiet nach wie vor keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt. Wie das? </b><BR />Berger: Ja, ich wollte nicht im regnerischen Schottland sesshaft werden. Ich bin recht spontan nach Südtirol zurückgekehrt, habe am Versuchszentrum Laimburg eine Stelle bekommen, wo ich bereits seit 15 Jahren arbeite. Von der Epigenetik musste ich mich leider verabschieden, daran wird hierzulande nach meinem Kenntnisstand nicht geforscht. Zunächst arbeitete ich an der Laimburg im molekularbiologischen Bereich, beschäftigte mich mit Rebkrankheiten wie der Goldgelben Vergilbung oder der Apfeltriebsucht (Besenwuchs). Dabei kamen mir die erlernten Methoden sicherlich zugute. Nun leite ich an der Laimburg einen Bereich, der unter anderem für Kommunikation und die Einwerbung von Drittmitteln zuständig ist. <BR /><BR /><b>Mussten Sie folglich für die Vorträge im Zuge der Summer School auf Schloss Velturns und in Girlan Ihren Kenntnisstand wieder aufzufrischen?</b><BR />Berger: Natürlich, für mich war es wie eine spannende Reise in die Vergangenheit. Doch gerade die Wissenschaftskommunikation hat mir geholfen, diese Thematik auf das Wesentliche herunterzubrechen und so den interessierten Zuhörern zugänglich zu machen. Gerade dieser Aspekt der Wissenschaftskommunikation gewinnt an Bedeutung, hierbei ist ein Umdenken in der Wissenschaft im Gange. Es wird immer wichtiger, dass man die Ergebnisse der Forschung und deren praktischen Nutzen für die Allgemeinheit erklärt und so Rechenschaft über die Handhabe der Forschungsmittel ablegt.<BR /><BR /><b>Wie groß war das Interesse an den Vorträgen?</b><BR />Berger: Das Interesse an den beiden Vorträgen war überraschend groß. Vor allem in Girlan hätte ich niemals mit so einem Publikumszulauf gerechnet. Ich habe mich selbst gefragt, woher dieser Wissensdurst kommen mag. Hier haben wohl die Coronazeit und die damit zusammenhängenden Fragen entscheidend beigetragen, viele Menschen beschäftigen sich seitdem eingehender mit derartigen Themen, etwa wie Impfstoffe zusammengesetzt sind. Der Großteil der Bevölkerung hat den Nutzen der Wissenschaft sehr wohl erkannt.<BR /><BR /><b>Zur Person</b><BR />Jennifer Berger hat in Innsbruck Mikrobiologie studiert und viele Jahre zur Epigenetik geforscht, darunter in Edinburgh, Schottland, bei Professor Adrian Bird, einem der Begründer dieses Wissenschaftsbereiches. Vor über 15 Jahren kehrte sie wieder nach Südtirol zurück, mittlerweile arbeitet sie am Versuchszentrum Laimburg als Leiterin des Fachbereichs „Science Support, Strategy and Communication“. Berger lebt mit ihrer Familie in Girlan. <Rechte_Copyright></Rechte_Copyright><BR /><BR /><BR />