Michael Reiner, Leiter der Jugendberatungsstelle „Young+Direct“ in Bozen, spricht im Interview mit s+ darüber, wie sich die Distanzierung während der Pandemie auf junge Menschen ausgewirkt hat, warum Jugendliche in der heutigen Gesellschaft zu wenig Freiraum haben und wo sie diesen finden können.<BR /><b><BR />Während der Pandemie war unsre aller Freiheit massiv eingeschränkt. Waren Jugendliche davon besonders betroffen?</b><BR />Reiner: Ja absolut. Sich nicht mehr mit Freunden zu treffen – egal in welchem Kontext – Kontakte nicht mehr pflegen zu können, war eine massive Einschränkung. Dabei geht es nicht nur darum, nicht mehr gemeinsam feiern oder mal über die Stränge zu schlagen zu können, sondern wirklich darum, Beziehungen und Freundschaften zu pflegen. Viele Jugendliche haben in dieser Zeit festgestellt, dass auch die unzähligen Möglichkeiten der digitalen Vernetzung nicht ausreichend sind. Natürlich ist die Kommunikation im Netz heute nicht mehr wegzudenken, sie kann aber den echten zwischenmenschlichen Austausch nicht ersetzen. Sehr viele haben uns in Beratungsgesprächen berichtet, dass sie durch die Corona-Einschränkungen das Gefühl hatten, sie würden ihre „Jugend“ verpassen. Die „Jugend“ umfasst tatsächlich eine auf das ganze Leben bezogen sehr kurze Zeitspanne von wenigen Jahren, wer genau zur Pandemie 15, 16 oder 17 Jahre alt war, hatte häufig das Gefühl: „Ich verpasse gerade etwas, das ich nie mehr zurückbekommen kann.“ Durch diese Sichtweise können ernsthafte Probleme wachsen. Wichtig ist aber zu unterstreichen: Die Zeit der Jugend steht für bestimmte Werte wie etwa Unbeschwertheit, Sorglosigkeit, Spaß. Nur weil ich diese nicht mit 16 Jahren ausleben konnte, heißt das nicht, dass das nie der Fall sein kann. Jugendliche waren gezwungen einen Schritt zurück zu machen, aber diese Werte kann man zu jedem Zeitpunkt des Lebens ausleben.<BR /><BR /><b>Pandemiebedingte Einschränkungen spielen nun schon seit längerer Zeit nur noch eine kleine Rolle. Wie tief sind aber die Spuren, die diese hinterlassen haben?</b><BR />Reiner: Im Austausch mit Jugendlichen erleben wir öfters, dass es ihnen schwerfällt, den Weg zurück in die Normalität zu finden. Vor allem haben aber viele Jugendliche die Schnauze voll von dieser ständigen „Problem-Sichtweise“ auf sie selbst. Einzelne haben zwar mit psychischen Problemen zu kämpfen, aber die große Masse hat eine unglaubliche Fähigkeit bewiesen, mit einer solchen nie da gewesenen Krisen umzugehen. Nun geht es darum wieder eine gesunde Form des „normalen“ Lebens zu finden.<BR /><BR /><b>Die Regierung Meloni ist kürzlich mit einem Dekret gegen unerlaubte Rave Partys vorgegangen. Ein weiterer Grund weswegen Jugendliche die Schnauze voll haben?</b><BR />Reiner: Ich glaube, dass dieses viel diskutierte Rave-Verbot für die Jugendlichen in der breiten Masse weit weniger eine Rolle spielt, als angenommen. Außerdem lenkt es von einer weitaus wichtigeren Thematik ab, die wir diskutieren sollten: Jugendliche haben in der heutigen Gesellschaft definitiv zu wenig Freiraum. Dabei geht es nicht nur um den physischen Raum – es gibt zu wenige Orte, für Jugendliche – sondern es geht auch die Einschränkung durch Regeln und Gesetze. Wenn ich an meine Jugend denke, dann war diese Zeit weit weniger reglementiert als heute. Das muss nicht besser oder schlechter sein. Aber man muss erkennen, dass sich ein Jugendlicher heute in einem Rahmen bewegen muss, der immer enger definiert wird. Es gibt kaum noch Freiraum, sondern es gibt überall Grenzen und Regeln, an die man sich halten muss. Dieses Bewusstsein schränkt die Möglichkeit zur freien Entfaltung auf jeden Fall ein. Wir stehen in regem Kontakt mit Jugendtreffs und Jugendzentren, die mit den Jugendräumen Orte schaffen, die für die Nutzung durch die Jugendlichen reserviert sind. Doch ein Großteil will das gar nicht, weil auch dieses Angebot bereits zu strukturiert ist. Menschen brauchen Freiraum, auch wenn dieser nur gefühlt ist und wir merken, dass sich Jugendliche immer schwerer damit tun, diesen zu finden. <BR /><BR /><b>Welche Reaktion löst dieser Mangel an Freiraum aus?</b><BR />Reiner: Eine logische Reaktion darauf ist, dass sich Jugendliche diesen Freiraum suchen und nehmen. Sie versuchen sich Momente zu schaffen, in denen sie ausbrechen und auch mal die Grenzen überschreiten. Dieser Herausforderung musste sich jede Generation einmal stellen, aber ich denke, dass Jugendliche heute viel eher anecken und viel schneller gegen die nächste Wand knallen, als es früher der Fall war. Leider kann das auch dazu führen, dass Jugendliche Straftaten begehen oder aggressives Verhalten an den Tag legen. Dieses Verhalten soll keines Falls gerechtfertigt werden, man kann aber im Mangel an Freiraum einen Erklärungsansatz finden.<BR /><BR /><b>Wie kann man der Jugend Freiraum wieder zurückgeben?</b><BR />Reiner: Gesellschaftlich müssen wir unser Bewusstsein dafür schärfen, dass dieser Mangel an Freiraum einen Effekt auf die Jugend hat. Das heißt nicht, dass es generell schlecht ist, wenn es strenge Regelungen gibt. Aber es muss klar sein, dass es für Jugendliche mitunter eine große Herausforderung sein kann, mit diesem Aspekt unserer Gesellschaft klar zu kommen. Man sollte außerdem den jungen Menschen nicht nur einen Regelkatalog vorlegen, sondern viel mehr darum bemüht sein, herauszufinden, was macht das mit ihnen; was brauchen sie? Es reicht nicht zu sagen, darum sollen sich die Jugendtreffs kümmern. „Raum geben“ müssen wir wieder globaler sehen: Der Jugend Platz geben und der Jugend eine Stimme geben. Es ist wichtig, dass die Jugend wieder das Gefühl bekommt, dass ihre Stimme wichtig ist und dass sie gehört werden. In bestimmten Aspekten muss sicher auch die Erwachsenenwelt größere Akzeptanz und Flexibilität aufbringen und junge Menschen auch mal „ihr Ding“ machen lassen, auch wenn das nicht ihrer Vorstellung entspricht. Auch die sozialen Medien spielen eine große Rolle: Jeder unserer Schritte landet dort und wird von anderen beurteilt. Damit kann man sich ein junger Mensch kaum noch Fehltritte leisten.<BR /><BR /><b>Jugendliche stecken in einer Zwickmühle: Einerseits haben sie so viele Möglichkeiten, wie keine andere Generation vor ihnen, andererseits werden sie durch Gesetze, Regeln und gesellschaftlichen Druck eingeschränkt, wie keine andere Generation vor ihnen. Wie kann man diesen Konflikt auflösen?</b><BR />Reiner: Es gibt im Leben nun mal nicht nur schwarz und weiß, sondern viele Schattierungen: Den Jugendlichen steht heute die Welt offen, sie können entscheiden, wo sie leben möchten, welches Studium sie interessiert, welchen Beruf sie ergreifen wollen. Studien haben aber gezeigt, dass diese schier unermesslichen Möglichkeiten, nicht nur positive Seiten haben. Im Gegenteil: Je mehr Optionen mir offenstehen, desto stärker wächst auch der Druck, genau die „eine richtige“ Option auszuwählen. Das kann große Verunsicherung auslösen. Mit diesen Kehrseiten müssen wir alle lernen umzugehen. Früher war es nicht besser oder schlechter, es war einfach anders. Man darf also nicht einen verklärten Blick auf die Vergangenheit werfen, sondern muss sich viel mehr mit seiner aktuellen Lebenssituation auseinandersetzen. Das gilt nicht nur für Jugendliche.<BR /><BR /><b>Jugendliche sollen also das Streben nach dem perfekten Leben aufgeben und sich auch mal mit weniger zufriedengeben?</b><BR />Reiner: Jein. Ja, sie sollten das Streben nach dem „perfekten“ Leben aufgeben, denn dabei orientiert man sich meist an einem unrealistischen Bild, das oftmals zu wenig an unseren eigenen Bedürfnissen orientiert ist. Nein, „zufriedengeben“ muss man sich nicht, denn das hat einen zu negativen Beigeschmack: „Ich darf ja nicht zu viel wollen.“ Darum geht es nicht, sondern vielmehr darum, dass Jugendliche eine gesellschaftlich einigermaßen akzeptable Form finden, um sich ihren Freiraum zu nehmen und ihre Stimme hörbar zu machen. Es ist wichtig, dass Jugendliche zum Ausdruck bringen, welchen Freiraum sie brauchen und diesen dann auch nutzen. An Grenzen zu stoßen ist dabei unvermeidbar, weil es keine grenzenlose Freiheit gibt. Es gilt also die richtige Balance zu finden und nicht in Extreme oder in eine „Ganz oder gar nicht“-Haltung zu rutschen. Zwischen „ganz oder gar nicht“ liegt viel Fläche, die ein Jugendlicher für sich nutzen könnte. <BR /><BR />