"PISA ist der wichtigste Gradmesser für Bildungssysteme". Sie wisse, führte sie aus, dass PISA nicht alles abdeckt, sondern Lesekompetenz und mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung. Auch Gegenargumente seien ihr bekannt: dass Herzensbildung, soziale Kompetenz und Kreativität wichtiger seien. Dies, führte die Landesrätin aus, könne aber nicht gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr könne man ohne Lesekompetenz und ohne mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung in unserer Gesellschaft nicht bestehen. Außerdem ist der Kompetenzbegriff bei PISA sehr weit gefasst. "Für mich", betonte sie, "ist PISA von großer Bedeutung. Ich erinnere mich, welchen Aufschwung die Schulwelt nach der Vorstellung der PISA-Ergebnisse 2003 genommen hat: Lehrer und Lehrerinnen, Eltern und Jugendliche, die gesamte Gesellschaft waren stolz auf unsere Schule. Aber vor allem: Wir haben einen Gradmesser, der international anerkannt ist und der uns sagt, dass wir ganz gut dastehen." Vor PISA hätte die Schule mit deutschsprachigem Unterricht in Südtirol einen Minderwertigkeitskomplex aufgewiesen, denn: "Wir meinten immer, wir könnten mit Österreich und Deutschland nicht mithalten. Das ist heute anders geworden." Mehr Förderung und ForderungErfreulich, so Kasslatter Mur weiter, seien die überdurchschnittlichen Leistungen in Mathematik und in den Naturwissenschaften sowie die Tatsache, dass die deutsche Schule das EU-Ziel, den Anteil der Risikoschüler und -schülerinnen im Lesen auf 15 Prozent zu senken, fast erreicht habe. Aber, bemängelte die Schullandsrätin, bei der Förderung der guten Leser und Leserinnen oder überhaupt der leistungsstarken Schüler und Schülerinnen sehe sie großes Entwicklungspotential: "Hier besteht Handlungsbedarf für Begabte." Froh sei sie hingegen darüber, "dass wir nach wie vor zu jenen Bildungssystemen gehören, die besser als andere Chancengerechtigkeit umsetzen: Schüler und Schülerinnen aus bildungsferneren Schichten haben in Südtirol eine größere Chance, zu guten Schulleistungen zu kommen. Das ist eine Stärke unseres Systems, darauf müssen wir auch in Zukunft setzen." Notwendig seien ein frühes Erkennen von Schwierigkeiten und ein schnelles Eingreifen, dies gelte nicht nur bei Kindern mit Beeinträchtigung, sondern müsse zu einem allgemeinen Prinzip werden. Zu viele SitzenbleiberSorge bereite ihr, dass PISA ausweisen konnte, dass der Grad an Selektivität an Südtirols Schulen deutlich gestiegen ist: Über 4 Prozent der 15-Jährigen sind noch in der Mittelschule und haben zwei oder mehr Klassen wiederholt; über 23 Prozent der 15-Jährigen haben mindestens einmal eine Klasse wiederholt. "Gleichzeitig", legte die Schullandesrätin dar, "machen alle Studien darauf aufmerksam, dass Klassenwiederholungen keine Probleme lösen, sondern sie im Gegenteil verstärken. Dieses Thema habe ich schon im Zusammenhang mit der Oberstufenreform aufgeworfen, bin aber noch nicht auf großes Gehör gestoßen - auch hier sehe ich eindeutig Handlungsbedarf." Gute RahmenbedingungenDie Rahmenbedingungen, vor allem die Ausstattung der Schulen mit Ressourcen, seien hingegen exzellent. Es sei, wandte sich Kasslatter Mur an die Schulführungskräfte, höchste Zeit, damit aufzuhören, im Kampf um noch mehr Ressourcen sogar Eltern vorzuschicken. Glücklich sei sie darüber, dass durch PISA so klar herauskommt, wie wichtig die frühkindliche Bildung ist: "Ich habe diesem Bildungsbereich immer große Bedeutung beigemessen und es ist gelungen, den Kindergarten ganz klar als Bildungsinstitution zu etablieren und den Bildungsauftrag des Kindergartens herauszustreichen." Ganz wichtig sei auch die frühe Leseförderung. Die ersten Kinder, die mit Büchern des Landesprojektes "Bookstart" ausgestattet wurden, kommen nun in die Grundschule; es sei abzuwarten, ob sich die frühe Leseförderung in der Schule auswirkt. "Ich erwarte mir", schloss Kasslatter Mur an die Tagungsteilnehmer gewandt, "dass Sie sich nun die Ergebnisse genau anschauen und analysieren, wo die Stärken und Schwächen liegen. Schützen und verstärken Sie das, was Ihnen schon gut gelingt. Setzen Sie einige Maßnahmen dort, wo Sie Handlungsbedarf ausmachen."