Eine Analyse von Harold James.<BR /><BR /><BR />Der rasante Vormarsch künstlicher Intelligenz zerstört nicht nur herkömmliche Vorstellungen von Arbeit. Er verändert auch den Kern der menschlichen Identität. Schon frühere haben sich Verhalten und Erscheinen der Menschen an technologische Fortschritte angepasst. KI jedoch wird die „wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Überzeugungen, auch hinsichtlich der Natur und Rolle des Staates“ jedes Einzelnen grundlegend verändern.<BR /><BR />Durch die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts hat mechanische Kraft – zum größten Teil gewonnen aus Kohle, Gas und Öl – die Kraft von Menschen und Tieren als Quelle der Energie ersetzt, mit der die Natur umgestaltet und Industrie- und Konsumgüter hergestellt werden. In der Reifephase der Revolution im 20. Jahrhundert nahm die Zahl der Berufe, in denen noch körperlich hart gearbeitet wird, immer weiter ab.<BR /><BR />Eine Blick in vorindustrielle Arbeitsbedingungen bieten zum Beispiel Dachdecker, die auch heute noch erschöpft und abgearbeitet sind, wenn sie den Elementen ausgesetzt in unbequemen, körperlich belastenden Stellungen arbeiten. Sie haben die Art, wie früher die allermeisten Menschen gelebt haben, ins 21. Jahrhundert hinübergerettet. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts mussten sich Arbeiter in der Autoindustrie über ihre Werkzeuge beugen, schwere Bauteile heben und dabei gewaltige Mengen Energie aufwenden. Ihre Nachfolger im 21. Jahrhundert überwachen am Monitor die Roboter, die alle schweren körperlichen Aufgaben übernommen haben. Seit diese Form der Fronarbeit verschwunden ist, sind Arbeitnehmer schwächer, aber auch gesünder. Wer eine gewisse körperliche Kraft aufbauen möchte, geht heute ins Fitnessstudio.<BR /><BR />Die IT-Revolution stellt einen weiteren Schritt in dieser menschlichen Entwicklung dar. Da Maschinen immer mehr kognitive Aufgabe übernommen haben, werden die Roboter, die physische Arbeiten erledigen, heute oft von Computern überwacht. Mit der Eliminierung geistiger Arbeiten (wie der komplexen Rechenaufgaben, die Verkäufer früher lösen mussten) hat sich dasselbe alter Muster wiederholt: vielen Menschen müssen auf der Arbeit nicht mehr denken und verwenden diese Energie auf Kreuzworträtsel, Sudokus oder Wordle.<BR /><h3> Revolution geht noch viel weiter</h3>Die aktuelle Revolution geht jedoch noch viel weiter, weil sie unsere Wahrnehmung kollektiver Tätigkeiten verändert. Am deutlichsten zeigt sich diese Entwicklung wohl beim Militär. Sie wirkt sich aber auch auf die politische Teilhabe und sogar auf unser Verständnis von rechtmäßiger Autorität aus.<BR /><BR />Das 20. Jahrhundert war von den destruktivsten Kriegen der Menschheitsgeschichte geprägt, die ihrerseits der Demokratisierung neue Impulse verliehen haben. Da Soldaten und ihrer Familien für ihre Opfer belohnt werden mussten, führten beide Weltkriege zu einer Ausweitung des Wahlrechts. Dem klassischen politischen Liberalismus zufolge kann man von niemandem erwarten, dass er sein Leben für ein politisches Gebilde opfert, in dem er keinerlei Mitbestimmung genießt.<BR /><BR />Dank der Technologie lässt sich dieser Prozess inzwischen aber kurzschließen. Weltweit wird von der gebildeten städtischen Bevölkerung immer seltener erwartet, dass sie sich mit der brutalen Seite des menschlichen Daseins befasst. Nehmen wir nur Russland. Der russische Präsident Wladimir Putin verlässt sich bei seinem Krieg gegen die Ukraine auf halb-autonome Söldnertruppen, soziale Randgruppen und sogar Häftlinge, weil er weiß, dass die Menschen in Moskau und Sankt Petersburg körperlich und, was noch wichtiger ist, psychologisch für diese Aufgabe ungeeignet sind.<BR /><h3> Kein neues Problem</h3>Das ist natürlich kein neues Problem. Bereits im Vorfeld des Ersten Weltkriegs fragten sich die militärische Führer großer europäischer Länder, wie sie ihre großen Armeen aufstellen sollten, wo doch viele Rekruten durch das moderne industrielle Leben für den Militärdienst untauglich geworden waren. Mit diesen Sorgen schlagen sich Militärplaner noch heute herum. Schon 2017 waren Schätzungen des Pentagon zufolge 71 aller jungen Amerikaner (zwischen 17 und 24) für den Dienst untauglich. Seitdem ist der Anteil auf 77 Prozent gestiegen. Allerdings verfügt das Militär heute über Technologien, von denen frühere Generationen nicht einmal zu träumen wagten. Ebenso wie vor ihm die Industrie- und Büroarbeit wird auch der Krieg inzwischen immer häufiger von unbemannten Geräten wie autonomen Drohnen übernommen.<BR /><BR />Um die politischen Folgen dieser Automatisierung des Krieges zu verstehen, müssen wir nur daran denken, wie sich die Gesellschaft insgesamt in der Moderne verändert hat. In der Gesellschaft des Mittelalter gehörten die Menschen zu einem von drei Ständen: Oratores, Bellatores, Laboratores – die, die sprachen oder beteten (der Klerus), die, die kämpften (der Adel) und der Rest, der wirklich „arbeitete“, das heißt, etwas mit den Händen tat.<BR /><BR />Die enorme politische Macht des Adels leitete sich ursprünglich von dessen Fähigkeiten im Kampf ab. Nachdem der Adel mit dem Kämpfen aufgehört und sich auf sein geckenhaftes Dasein am Hofe zurückgezogen hatten, löste sich die Legitimität seiner Herrschaft in einer Parfümwolke auf. Mit den Massenarmeen nach der französischen Revolution wurde Krieg demokratisiert, und mit ihm die Politik. Und jetzt, wo Kriege mit Technologie geführt werden, entgleitet dem Volk diese Macht wieder.<h3> Was aber wird aus der nun überflüssigen Gesellschaftsgruppe?</h3>Ebenso wie die industrielle Revolution den Bedarf an Laboratores verringert hat, macht die KI-Revolution Menschen im militärischen Bereich obsolet. Wie die Laboratores vor ihnen, werden die Bellatores durch Maschinen ersetzt. Bleiben noch die Oratores, die bisher das erhalten haben, was den Menschen zum Menschen macht.<BR /><BR />Sind auch sie in Gefahr, nach und nach durch Technologie überflüssig gemacht und letztendlich ausgelöscht zu werden? Weil sie genau das befürchten, fordern ein paar Kritiker und Technologiepioniere eine „Pause“ bei der KI-Entwicklung. Technologie hat aber noch nie Halt gemacht, nur weil ein paar Leute das gern hätten.<h3>Zum Autor</h3>Harold James lehrt Geschichte und Internationale Beziehungen an der Princeton University und ist Autor von The War of Words: A Glossary of Globalization (Yale University Press, 2021).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023.<BR /> <a href="https://www.project-syndicate.org/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">www.project-syndicate.org</a><BR /><BR />