Ein liniertes Schulheft, 9 Seiten sind mit Bleistift beschrieben. Immer wieder bricht ein Satz abrupt ab, einzelne Stichworte liegen dann wie schwere Steine mitten im Text: So fasst Klaus Walter (63) aus Bozen das in Worte, was er als Bub erlebte, seitdem fast täglich in quälenden Erinnerungen durchlitt und jetzt endlich aussprechen kann. Er wurde als kleiner Bub von einem Priester sexuell missbraucht. <BR /><BR />Stimmt das jetzt wirklich, oder kommt das aus einer kranken Fantasie? Wird hier ein Mensch aus Rache eines Verbrechens beschuldigt, ist es eine offene Rechnung mit der Kirche, will da einer einfach nur Aufmerksamkeit und womöglich Geld als Schadenersatz? <BR /><BR />Wer einem Vertreter der Kirche sexuellen Missbrauch vorwirft, steht vor einer besonders hohen Mauer des Nicht-Glaubens, ja sogar der Vorwürfe. Auch Klaus Walter kennt sie, ist über Jahrzehnte gegen diese Mauer geprallt, hat sich alte Wunden neu aufgerissen. Trotzdem nimmt er einen neuen Anlauf, er will diese Geschichte erzählen, ja sogar ein Buch darüber schreiben:<BR /><BR /><b>Klaus Walter:</b> „Schon vor 30 Jahren wollte ich aufstehen und dieses Verbrechen öffentlich machen. Damals hat mir niemand geglaubt. Oder es hieß: Sei still, da muss man nicht alte Sachen aufwärmen. Als Bischof Karl Golser dann einen Ansprechpartner für solche Fälle ernannt hat – der frühere Volksanwalt Werner Palla – habe ich mich ihm anvertraut. Mit seiner Nachfolgerin Maria Sparber und dem Priester Gottfried Ugolini bin ich in Kontakt, sie helfen mir sehr weiter. Nein, ich brauche keine Psychotherapie oder Schadenersatz, ich kann inzwischen damit leben. Am meisten hat mir dabei geholfen, dass man uns endlich zuhört und ernst nimmt. Ich leide viel weniger, seit ich das aufgeschrieben habe und das in der Kirche thematisiert wird – vor allem seit dem Gipfeltreffen zum Thema Missbrauch im Februar in Rom. Diese neue Offenheit ist unglaublich befreiend. Für viele kommt sie leider zu spät, denn sie haben sich inzwischen das Leben genommen. Denn das Vertuschen dieser Kapitalverbrechen reißt bei den Opfern immer wieder Wunden auf. Ich hoffe, dass das jetzt in der Kirche aufhört und dass darüber gesprochen und damit weitere solche Untaten verhindert werden. Dazu will ich auch beitragen.“<BR /><BR />Fast genau 50 Jahre ist es her, dass Klaus Walter von einem Priester sexuell missbraucht wurde. Täglich spielten sich die Szenen in seiner Erinnerung wieder ab, „an 18.262 Tagen“ sei das Geschehene immer wieder über ihn hereingebrochen: <BR /><BR /><b>Klaus Walter:</b> „Ich war 13 Jahre alt, als Hüterbub auf einer Alm unterm Weißhorn. Eines Tages kam der Pfarrer*, und ich dachte mir: Schau her, dass er Zeit hat, zu mir zu kommen und dass er mich gefunden hat! Vielleicht will er mit mir beten? Aber dann verwickelte mich der Pfarrer in ein Gespräch, fragte, ob ich schon Unkeusches erlebt hätte. Wollte er mir die Beichte abnehmen? Aber der Pfarrer bohrte weiter, wollte etwas über Doktorspiele von uns Kindern erfahren. Dann fing er an, mich auszuziehen, mich überall anzugreifen. Dann war das, wie wenn mir einer mit dem Gummihammer auf den Kopf geschlagen hätte. Plötzlich wurde alles schwarz. Mir kam aber vor, dass meine Seele wie in einer Flasche eingeschlossen und dort von Jesus beschützt wurde. Draußen sah ich die grässliche Fratze des Pfarrers, aber er konnte nicht hereingelangen. Er ist dann fast alle Tage gekommen, den ganzen Sommer lang. Und ich kann mich nie erinnern, wann er gegangen ist. Da war dann alles nur schwarz.“<BR /><BR />Wie kann sich ein Hirtenbub aus einem armen Elternhaus gegen den „Hochwürdigen Herrn“ wehren? Klaus Walter erlebt tiefste Hilflosigkeit – und eine grausame Falle, in die viele Opfer in solchen Situationen geraten: Sie fühlen sich plötzlich selbst schuldig: <BR /><BR /><b>Klaus Walter:</b> „Mir ging es sehr schlecht, ich hatte Magenkrämpfe, mir war übel. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen. In der Schule hatte man uns das 6. Gebot beigebracht, dass wir also nichts Unkeusches tun sollten. Aber ich selbst tat jetzt Unkeusches! Also beschloss ich, beim Pfarrer zu beichten. Er hat mich mit gierigen Augen ausgefragt, wollte sogar wissen, ob ich andere Buben wüsste, die so etwas machen. Erst später wurde mir bewusst, dass er nach weiteren Opfern suchte. Irgendwann hat er mir die Lossprechung erteilt, ich sollte ein Vaterunser beten. Das kam mir sehr wenig vor, bei dem was ich getan hatte. Später hat er mir bei der Messe mit seinen Schänderhänden die Kommunion gereicht.“<BR /><BR />In den folgenden Wochen kann sich Klaus Walter schützen, indem er auf einen Baum klettert, von dort aus die kleine Kuhherde im Auge behält und dort den größten Teil des Tages verbringt. In dieser Zeit habe er sein Gehör auf den Klang der Glocken abgestimmt, Blockflöte und Mundharmonika spielen gelernt und Abenteuerromane gelesen. Mit dem Almsommer ist auch die Gefahr von weiteren Übergriffen vorbei. Die Erinnerungen an Untaten haben sich ihm tief eingebrannt. Trotzdem kann Walter heute dem Täter verzeihen – bei anderen fällt ihm das schwerer: <BR /><BR /><b>Klaus Walter:</b> „Dieser Priester aus dem Vinschgau war dafür bekannt, dass er es auf Buben abgesehen hat. Das halbe Dorf hat es gewusst, noch heute reden die Leute davon. Er ist dann versetzt worden, immer ungestraft. Später wurde sein 60-jähriges Priesterjubiläum gefeiert, mit vielen lobenden Worten. Trotzdem habe ich immer versucht, ihn als Geschöpf Gottes zu sehen und keinen Hass aufkommen zu lassen. Später habe ich ihm einen Brief geschrieben, in dem ich ihm verzeihe. Solange er noch gelebt hat, wollte ich ihm den Brief persönlich übergeben. Dazu ist es leider nicht gekommen, auch weil man mir gesagt hat, ich solle diesen alten Geistlichen nicht noch damit konfrontieren. So ist er gestorben. Ich war an seinem Grab und habe dort meine Worte des Verzeihens ausgesprochen. Strafrechtlich sind seine Taten verjährt. Aber ich glaube, dass das Mord an einer Seele ist. Und Mord verjährt nicht. Trotzdem verzeihe ich, denn auch ich bin ein sündiger Mensch.“<BR /><BR />Fast 2 Stunden lang hat Klaus Walter inzwischen erzählt. Mit Unterbrechungen, oft mit stockender Stimme, Tränen in den Augen. Aber es sei ihm weitaus besser gelungen, dafür die Worte zu finden, als zuerst befürchtet, meint er. Er blendet zurück in Zeiten, in denen er in Depression versank, am Etschufer stand, weil er ins Wasser gehen wollte. Jetzt, wo er darüber reden kann, hat er mit dem schweren Schatten über der Kindheit leben gelernt: <BR /><BR /><b>Klaus Walter:</b> „Ich verachte dieses System der Kirche, das dieses Verschweigen und Vertuschen über Jahrzehnte möglich gemacht hat. Es wird noch lange dauern, bis das aus den Köpfen heraus ist, dass die Opfer beschuldigt werden. Und bis Kinder und Jugendliche wirklich gut geschützt werden. Mir hat der Glaube sehr geholfen. Ich wüsste nicht, wie das sonst auszuhalten wäre. Ich habe mich immer mit Leuten der Kirche beschäftigt, die genau das Gegenstück dieses Pfarrers waren: fromme, ehrliche, vorbildliche Menschen. Dazu zählt etwa der heilige Pfarrer von Ars, der Märtyrer P. Franz Reinisch, unser Seliger Josef Mayr-Nusser. Für sie habe ich auch Lieder geschrieben. Man kennt mich auch als Musiker auf dem Bozner Waltherplatz. Musik ist für mich eine Therapie. Wenn ich musiziere, schauen mir Kinder meist sehr gerne zu. Wenn ich sehe, wie unbeschwert sie ihre Kindheit verbringen, freue ich mich darüber. Das ist mir auch ein Trost. Für meine schrecklichen Erlebnisse in der Kindheit erwarte ich mir, dass sich die Kirchenleitung schriftlich entschuldigt, sonst nichts. Ich habe 50 Jahre darauf gewartet und kann weiter warten.“<BR /><BR />* Der Name des Pfarrers ist der Redaktion bekannt. Wir verzichten aus Rücksicht auf Angehörige auf die Veröffentlichung. <BR />