Der Lego-Turm steht noch in einer Ecke in der Stube. Er ragt fast bis ans Dach der Mansardenwohnung. „Ich baue einen Turm bis zum Himmel“, hatte der 10-jährige Kassian gesagt. Das war 4 Tage vor dem schrecklichen Unfall in Osttirol, bei dem er, seine Mutter Monika (47) und sein Bruder Matthäus (7) ums Leben kamen und Benedikt (13) schwerstens verletzt wurde. Christian Tschurtschenthaler (58) erinnert sich noch an jede Minute dieser dunkelsten Tage seines Lebens. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1120776_image" /></div> <BR /><BR />Wie an jenem 22. Jänner am späten Nachmittag plötzlich 8 fremde Leute in seinem Büro standen, Carabinieri, Polizei und Notfallseelsorge, und ihm von dem schweren Unfall hinter der Grenze erzählten, daran, wie er mit ihnen zuerst zu Schwager und Schwägerin gefahren ist, dann zu seiner Schwiegermutter. Und daran, dass seine größte Sorge sogleich Benedikt galt, der in der Uniklinik in Innsbruck um sein Leben kämpfte. „Es war einfach nur ,zach‘“, erinnert er sich. „Ich fühlte mich ohnmächtig, wie im freien Fall, ohne Boden unter den Füßen.“ Sein einziger Halt war der schwerverletzte Älteste. „Er war der Strohhalm, an dem ich mich in diesen Tagen festhielt. Ich betete nur: Herrgott, bitte lass mir den Bub“, erzählt er.<h3> 8 Seiten lange Liste mit den Verletzungen</h3>Dass Benni heute neben ihm sitzt, körperlich gesund und ohne Blessuren, das ist ein medizinisches Wunder. Schlüsselbein, Nase, Halswirbel, Brustbein, Beckenschaufel und noch einiges mehr gebrochen, Risse in Milz, Lunge und Darm, Bänder und Muskeln lädiert, eine Blutung im Gehirn – „8 Seiten lang ist die Liste der Verletzungen, mit denen er in die Klinik kam“, erzählt sein Vater. Die Prognose war unsicher. „Große Hoffnungen hat mir niemand gemacht, aber man versicherte mir am Telefon, dass mein Bub in den besten Händen sei.“ <BR /><BR /><embed id="dtext86-67189486_quote" /><BR /><BR />2 Tage nach dem Unfall war Christian Tschurtschenthaler selbst in Innsbruck. Benni wurde da 14. Von den Plakaten, die Vater und Pflegekräfte gemalt hatten und die heute am Küchenschrank hängen, bekam er im Koma nichts mit. „Das letzte, an das ich mich erinnere, ist, wie wir am Tag des Unfalls alle zusammen beim Mittagessen saßen“, erzählt er. Dann weiß er erst wieder vom Umzug in die „Präsidentensuite“. So nannten er und sein Vater das Intensivzimmer auf der Kinderstation, das sie Mitte Februar gemeinsam beziehen durften. <BR /><BR />Ein paar Tage davor war Benni erstmals kurz aufgewacht, hat seinen Vater erkannt und zu reden versucht. Nach fast 3 Wochen im Koma, an Beatmungsgeräten und Schläuchen angeschlossen, war es nicht viel mehr als ein Flüstern, aber für den Vater eine „große Erleichterung“. „Bis dahin konnte niemand sagen, ob und welche Folgen der Unfall für ihn haben wird“, erzählt Tschurtschenthaler. „Es gab alle möglichen Szenarien. Dass er nicht mehr sehen wird, nicht mehr reden kann, der rechte Fuß und der rechte Arm gelähmt bleiben.“ Nichts von all dem traf ein.<h3> Das schwerste Gespräch seines Lebens</h3>In diesen Tagen musste der Vater auch jenes Gespräch führen, vor dem er sich sehr gefürchtet hatte. Er musste seinem Sohn erzählen, was passiert war, dass die Mama und die beiden Brüder, mit denen er sonst die Stube zum Fußballplatz gemacht hatte, nicht mehr lebten. „Die Psychologinnen der Kinderklinik hatten mich darauf vorbereitet, weil dieses Gespräch entscheidend für unser beider Weiterleben sein würde“, erzählt Tschurtschenthaler. 2 Stunden habe es gedauert, „aber wir haben in dieser Zeit nicht nur geredet“. Niemals zuvor hätte er gedacht, dass er so etwas jemals schaffen würde. „Der Herrgott und vor allem die Drei von oben haben mir die Kraft dafür geschickt“, ist er sich sicher. Und spätestens, als Benedikt sagte, „Gell Tata, wir sind ab jetzt nicht nur ein Team, sondern ein Dream-Team“, wusste er, dass sie beide auf dem richtigen Weg ins Weiterleben waren. <BR /><BR />Benedikt erholte sich in Blitzgeschwindigkeit. Am 28. Februar wurde er aus der Kinderklinik Innsbruck entlassen und in die Neuro-Reha nach Sterzing überstellt. Am 22. März – 2 Monate nach dem Unfall – war er wieder daheim und einen Tag später in der Stube umringt von seinen Schulfreunden. „Diesen Moment haben wir beide wirklich herbeigesehnt“, erzählen sie.<BR /><BR /><embed id="dtext86-67189523_quote" /><BR /><BR />3 Tage später saß Benedikt wieder in der Schule. Im Juni machte er die Mittelschulprüfung und präsentierte dabei eine dreisprachige Projektarbeit über die Uniklinik Innsbruck und seine Zeit dort. Mit vielen Fotos und Details zu seinen Verletzungen, zu den vielen Untersuchungen und Eingriffen. Es ist fast die Kurzform seiner Krankenakte, die er in- und auswendig kennt. Und ein bisschen auch eine Aufarbeitung des Geschehenen. Mit einer 8 im Zeugnis wechselte er im September in die WFO nach Innichen. <BR /><BR />Keine Frage, es sei ein hartes Los und ein herber Schicksalsschlag und doch spricht Christian Tschurtschenthaler von Dankbarkeit und auch von Glück. „Es ist ein schweres Packl, das uns da auferlegt wurde, aber schon in den Tagen in Innsbruck habe ich angefangen zu danken“, sagt er. „Es hätte noch viel schlimmer kommen können.“ Er denkt an schwerste Verletzungen, die für das Leben zeichnen und aus lebhaften Kindern Pflegefälle machen oder an seine Frau, die, hätte sie überlebt, den Tod auch nur eines ihrer Kinder nicht verkraftet hätte. „Ich glaube nicht, dass unsere Familie das überstanden hätte“, sagt Tschurtschenthaler. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1091013_image" /></div> <BR />Er habe zu seiner Frau oft gesagt, wie viel Glück sie doch in ihrem Leben haben und hatten. Auch wenn das Schicksal an jenem Nachmittag im Jänner erbarmungslos zugeschlagen hat, dass er mit seinem Sohn heute „eine richtige Männerwirtschaft“ führe und es ihm gut gehe, das empfindet er wieder als „ganz großes Glück“. <BR /><BR />Die vergangenen Monate haben ihm eines gezeigt: „Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben. Von heute auf morgen kommen wir in Situationen, die wir uns niemals zuvor hätten vorstellen können“, sagt Tschurtschenthaler. Er bemühe sich nun, bewusster zu leben, „darauf zu achten, was uns guttut und das nicht lange aufzuschieben“. Deshalb waren er und Benedikt im Sommer viel auf den Bergen unterwegs, haben mit dem Arzalpenturm sogar einen Klettersteig in den Sextner Dolomiten bewältigt und „wertvolle Zeit mit vielen Menschen genossen, die wir von einer ganz anderen Seite kennenlernen durften“. <BR /><BR />Und sie sind zu den Olympischen Spielen nach Paris gereist. „Das hatten wir als Familie geplant, und Benni hat noch im Krankenhaus gedrängt, dass wir trotzdem fahren“, erzählt sein Vater. Es sei die richtige Entscheidung gewesen. „Es war einfach sensationell, wir hatten extrem viel Spaß und haben gemeinsam viel gelacht.“ <h3> Die Frage nach dem Warum</h3>Ja, es werde auch wieder gelacht. „Das Leben ist schön. Es hält so viele schöne Dinge für uns bereit, die auch die dunklen Momente überstrahlen.“ Denn auch die gibt es. „Aber Gott sei Dank sind es nur kurze Momente, und wir haben sie selten zugleich. Dann zieht der eine den anderen wieder aus dem Tief“, erzählt der Sextner. Zu trauern sei wichtig, „die Trauer muss man zulassen, aber man sollte nicht in ihr verharren, denn dann dreht sich die Spirale schnell nach unten“, sagt Tschurtschenthaler. Natürlich stehe auch bei ihnen mitunter die Frage nach dem Warum im Raum. „Aber darauf wird man keine Antwort bekommen.“ So vieles passiere jeden Tag auf der Welt, auch dafür gebe es keine Erklärung und keinen Grund. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1091016_image" /></div> <BR />Ein bisschen sorgt sich Christian Tschurtschenthaler vor den nächsten Wochen und Monaten. Allerheiligen, Weihnachten, der Jahrtag stehen an. „Allerheiligen besorgt mich weniger. Wir sind oft am Friedhof, gestalten das Grab gemeinsam und finden im Glauben Halt“, sagt der Familienvater. Schwierig aber werde der Cäciliensonntag werden. Da wäre seine Monika für 25 Jahre im Chor ausgezeichnet worden. „Im Vorjahr wurde ich für 40 Jahre geehrt und sie hat die Fotos gemacht. Schon beim Gedanken daran, dass sie das nicht erleben darf, muss ich weinen“, sagt er mit Tränen in den Augen. Trotzdem haben Benedikt und er nie daran gedacht, die schwierigen Tage anderswo zu verbringen. „Das wäre wie eine Flucht. Früher oder später muss man sich damit auseinandersetzen und damit zurechtkommen.“<BR /><BR />Die beiden haben sich ins Leben zurückgekämpft. „Es war und ist nicht leicht“, bekennt Tschurtschenthaler. „Und ohne die Unterstützung von so vielen Menschen würden wir es auch nicht schaffen. Die engste Familie, die Nachbarn, die Freunde, die Dorfgemeinschaft, das Tal, mein Arbeitgeber, das ganze Land – wir fühlen uns immer noch getragen von sehr vielen“, sagt er. Diese Hilfe und Kraft würden sie noch länger brauchen. Jedem, der um einen lieben Menschen trauert, rät der Sextner, sich ebenso helfen zu lassen, Hilfe anzunehmen. Er und Benedikt haben seit Jänner „unwahrscheinlich viel Trost und Hoffnung“ erfahren. Das tue gut. Genauso wie das Wissen, dass „unsere 3 Sterne“ nicht vergessen werden. <h3> Die Grüße der Buben im Klassen-Chat</h3>Dafür sorgt auch Vater Christian. Er erinnert über Whatsapp an die Geburtstage seiner Lieben, schickte zu Schulbeginn im Namen seiner jüngsten Buben Grüße in den Klassen-Chat. „Das Schlimmste wäre, wenn niemand mehr über sie reden würde. Für uns sind sie nicht gegangen. Sie sind zwar physisch nicht mehr hier, aber sie begleiten uns von der Früh bis zum Abend – im positiven Sinne“, sagen Vater und Sohn. Deshalb stehen auch noch die Schultaschen der Buben an ihrem Platz in der Wohnküche, auch die beiden „Büros“ der Kleinen mit Farben, Heften und Spielen, die sie kurz vor dem Unfall noch in der Hand hatten. Und der Lego-Turm bis zum Himmel. „Der größere Teil unserer Familie ist jetzt oben, der kleinere unten“, sagt Tschurtschenthaler. „Aber es ist gut zu wissen, dass sie zusammen an einem schönen Ort sind. Die Kleinen brauchen ihre Mama, wir beide schaffen das schon“, sagt er zu seinem Sohn. Und wenn sich Tränen in die Augen schleichen, dann darf das sein.