s+ erzählt er in einer 2-teiligen Serie von seinen Erlebnissen und gesammelten Eindrücken auf dem Weg in die Region Donbass.<BR /><BR />Die wachehabenden Soldaten stutzen, kneifen die Augen zusammen und blinzeln. Ein farbiger Punkt nähert sich langsam dem Checkpoint mitten in der Pampa. Vieles haben sie in den letzten Wochen und Monaten gesehen, aber das noch nie. Beim Näherkommen entpuppt sich der Punkt als älterer Mann in neongelber Warnweste auf einem alten Stadtfahrrad. Auf dessen Gepäcksträger ist ein gewöhnlicher schwarzer Reisekoffer festgezurrt. Der Mann trägt eine Pilotenbrille mit Sichtgläsern auf dem Kopf, sowie eine rote Baseballkappe mit bunten Stoffstreifen und einem Che Guevara Abbild. <BR /><BR />Er grüßt mit „Slava Ukraini“ und zeigt einen italienischen Reisepass vor. Die diensthabenden Soldaten prüfen alles, auch die Hunde können nichts finden. Die Soldaten räumen schließlich kopfschüttelnd die Reifenkrallen für den „verrückten Radlfahrer“ aus dem Weg, während sie mit ihm über sein „klappriges Vehikel“ lachen und scherzen. Sie wünschen ihm eine gute Reise und viel Glück. Auch der skurrile Reisende wünscht ihnen nur das Beste. <BR /><BR />So oder so ähnlich muss es den Soldaten gegangen sein, denen Erwin Tscholl im Juni an mehreren Kontrollpunkten auf seinem Weg quer durch die Ukraine begegnet ist. Tscholl (65) kommt aus Latsch im Vinschgau und reist derzeit durch das Krisengebiet. Der gelernte Journalist und ehemals freie Mitarbeiter der „Dolomiten“-Bezirksredaktion Vinschgau ist als Zeitzeuge der Ereignisse unterwegs und sagt über sich selbst: „Ich bin kein Kriegsjunkie. Kein Draufgänger. Und auch nicht verrückt und durchgeknallt.“ Er wolle die Lage vor Ort mit eigenen Augen einschätzen, wie er es seit nahezu 40 Jahren auch in anderen Krisengebieten getan hat – unter anderem in Ex-Jugoslawien, Kurdistan und Palästina, auf den Philippinen und im Nahen Osten. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="784286_image" /></div> <BR /><BR />Immer mit dabei seine Kappe, die ihm sehr am Herzen liegt. Bei seinen Reisen sei die Kappe immer als Gesprächsthema gut und diene gleichzeitig als Sonnenschutz, erzählt er als wir ihn telefonisch erreichen. Das Che-Guevara-Bild habe er auf der Mütze aus „Respekt vor der historischen Figur dieses Mannes aus Argentinien und der in Kuba die Welt verändert hat.“ Auch den Farbbändern kommt eine Bedeutung zu, lässt der mitteilungsfreudige Bald-Rentner wissen. Demnach stünden die Farben Blau und Gelb selbstverständlich für die Ukraine und das grüne Band für die Hoffnung auf Frieden. <BR /><BR />In der Ukraine war Tscholl das erste Mal 1978, damals noch Teil der Sowjetunion. Nun, fast genau 44 Jahre später, ist er wieder mit dem Zug in die Ukraine, ein unabhängiges Land, gereist. Dieses Mal über die polnische Grenzstadt Premeysl nach Lwiw, auch Lemberg genannt, und anschließend erstmal nach Kiew.<BR /><BR /><b>Kiew, Irpin, Butscha</b><BR /><BR />Trotz der hohen Temperaturen von 35 Grad radelt der Latscher alleine durch die ukrainische Hauptstadt und besucht die Gedenkstätten in den Vororten Irpin und Butscha, <a href="https://www.stol.it/artikel/politik/entsetzen-ueber-massaker-in-butscha-vorwurf-des-voelkermordes" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">die bis Ende März etwa 4 Wochen unter der Kontrolle russischer Truppen lagen und in denen das russische Militär Kriegsverbrechen verübte. </a> Eine unabhängige Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats ermittelt noch und wird ihren Abschlussbericht im September präsentieren. Der Vorsitzende der Kommission, Erik Mose, kann aber bereits bestätigen, dass es überzeugende Indizien dafür gebe, dass gravierende Menschenrechtsverletzungen in diesem Gebiet stattgefunden haben, die als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden können.<BR /><BR />In Irpin wurde die eingestürzte Brücke indes von der ukrainischen Regierung zu einem Mahnmal und einer Gedenkstätte erklärt. Die ukrainische Armee hatte sie selbst gesprengt um den Vormarsch der Russen auf Kiew zu verlangsamen. Heute ermöglichen provisorische Holzplanken wieder einen Übergang über den Fluss. Zwischen Planken und Schutt liegen Gegenstände, die auf der Flucht verloren gegangen sind. Daneben stehen Plakate und Holzkreuze, die an die Menschen erinnern, die bei der Flucht aus Irpin ums Leben gekommen sind. <BR /><BR /><embed id="dtext86-54962283_gallery" /><BR /><BR />Unter anderem steht Tscholl an derselben Stelle wie zuvor Kommissionspräsidentin Ursula von Leyen am 8. April: an der zerstörten Brücke in Irpin. Er legt Blumen an den Mahnmälern und Massengräbern nieder. Diese Momente wird er später sagen, haben ihn am allermeisten beeindruckt, als er alleine in der ukrainischen Sommerhitze vor den Massengräbern in Irpin und Butscha steht. Anschließend spricht der Vinschger – vorrangig auf Englisch und mit Übersetzungsprogramm – mit ein paar Einheimischen. Nahe der Kathedrale erzählt ihm ein Bistrobesitzer wie er Zeuge der Ermordung seiner Eltern wurde. Auch die Kellnerin des Bistros hat Familie verloren, als ihr Bruder beim Kampf an der Brücke in Irpin fiel. Zusammen weinen hilft etwas. Unzähligen weiteren Menschen hat dieser Krieg bereits Familienmitglieder, Freunde und Bekannte genommen. <BR /><BR />Insgesamt, bestätigen die Vereinten Nationen bis jetzt über 4031 zivile Todesopfer und mindestens genauso viele Verletzte, während das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) davon ausgeht, dass die Dunkelziffer an Verletzten und getöteten Personen in der Zivilbevölkerung weit höher liegen dürfte. Penibel zusammengetragene Informationen wie Fotos, Behördenangaben, Zeugenaussagen und Tatortinspektionen, ermöglichen eine präzise Einschätzung der zivilen Opfer. Allerdings beanspruchen die aufwendigen Ermittlungen Zeit.<BR /><BR /><b>Von Kiew nach Dnipro</b><BR /><BR />Auf dem Weg in das fast 500 Kilometer entfernte Dnipro, in das Tscholl als nächstes mit dem Zug reist, bemerkt er ein von Schützengräben durchzeichnetes Land, während mit Kriegsgerät beladene Züge auf den Bahnlinien verkehren. Als er in Dnipro ankommt, liegen die Temperaturen um die 40 Grad Celsius – noch heißer als in Kiew. In der Stadt nahe der Front wimmele es von Soldaten. Er habe großen Respekt vor den Waffen die vor ihm liegen, habe aber keine Angst. Angst sei kein guter Ratgeber, sagt er. Wenn er den jungen ukrainischen Soldaten in die Augen blickt ist ihm klar, dass einige in den nächsten Tagen und Wochen wohl nicht mehr lebend nach Hause kommen werden. <BR /><BR />Inoffiziellen Schätzungen zufolge fallen täglich mindestens zwischen 100 und 200 Soldaten auf beiden Seiten. Weitaus mehr werden verwundet oder als Kriegsgefangene inhaftiert. Laut der ukrainischen Armee sind seit Beginn des Krieges 34.100 russische Soldaten getötet worden. Der Kreml gibt kein Statement dazu. <BR />Angaben beider Kriegsparteien über Verluste unterscheiden sich teilweise stark. Die Zahlen zu den Verlusten der Gegenseite sollen möglichst hoch erscheinen, um die Moral der eigenen Truppen zu erhalten. Über die eigenen Verlustzahlen wird geschwiegen. Wenn Angaben gemacht werden, dann werden geschönte Zahlen veröffentlicht, erklärt Nicolas Freund von der Süddeutschen Zeitung. <BR /><BR />Bei seiner Anreise durch die Felder der Ostukraine werden für Tscholl, der in jungen Jahren auch Geschichte und Geographie studiert hat, die Parallelen zu einem anderen und dem letzten großen Krieg in diesem Gebiet deutlich. Während des Unternehmens Barbarossa zwischen dem 22. Juni 1941 und 31. Januar 1943 fielen auf den Getreidefeldern der Ukraine Millionen von Soldaten, darunter auch Südtiroler, wie beispielsweise ein Onkel von Tscholl. Mit der Annexion der Krim 2014, 71 Jahre nach Ende des Unternehmen Barbarossas, wurde der Konflikt, der sich zwischen Russland und der Ukraine abspielte zu einer handfesten Krise. Seit der andauernden militärischen Eskalation am 24. Februar 2022 ist ein Krieg wieder in der Ostukraine eingezogen und damit erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder in Europa angelangt. Nun droht er ins Landesinnere zu ziehen. <BR /><BR /><b>Wenn der Krieg kommt…</b><BR /><BR />Das macht sich auch bemerkbar, als <a href="https://www.stol.it/artikel/politik/sjewjerodonezk-von-aussenwelt-abgeschnitten" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">am 13. Juni bekannt wird, dass Sjewjerodonezk größtenteils von den Russen kontrolliert wird</a>. Die Militärs machen sich keine paar Stunden später daran die Brücken zu verminen. Standardprozedur. „Wenn die Russen kommen, dann werden alle Brücken in die Luft gesprengt.“, erzählt Tscholl. Dnipro hinterlasse zwar „herrliche Impressionen, aber wenn der Krieg bis nach Dnipro kommt, fällt alles in Schutt und Asche.“ <a href="https://www.stol.it/artikel/politik/raketenangriff-auf-ukrainische-stadt-dnipro-gemeldet" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Keine 2 Wochen später, werden auf mehrere Städte in der Ostukraine Raketenangriffe gemeldet, darunter auch auf Dnipro.</a><BR /><BR /><embed id="dtext86-54962285_gallery" /><BR /><BR />Die Soldaten mit denen der Radreisende spricht, erzählen ihm von den grauenvollen Ereignissen im Donbass, Butscha, Irpin. An der Front sterben nicht nur Männer, sondern auch Frauen, die als Soldatinnen, Reservistinnen oder Zivilistinnen bei der Verteidigung ihres Landes fallen. Bereits 2021 vor der militärischen Eskalation des Krieges belief sich der Anteil der Frauen im ukrainischen Militär auf 22,8 Prozent wie aus einem offiziellen Militärdokument, dem „White Book 2019 – 2020“, hervorgeht. <BR /><BR />Weiter erzählen die Soldaten Tscholl, dass die Killerkommandos von Tschetschenien unter Präsident und General Ramsan Kadyrow, am schlimmsten wüten würden. Teils Propaganda, teils Methode der psychologischen Kriegsführung Russlands, sind die Tschetschenischen Kommandos unter Roman Kadyrow dafür berüchtigt, noch brutaler vorzugehen als russische Söldner und sich auch nicht an das das Völkerrecht zu halten. Jean-François Ratelle ist Assistenz Professor an der Universität von Ottawa und Experte für Russland und das Kaukasus Gebiet, erklärte dem amerikanischen Magazin „Foreign Policy“ das Ziel dieser Kommandos. Laut Ratelle ist die Absicht dieser Kommandos, die Bevölkerung massiv einzuschüchtern und glauben zu lassen, dass es wie in Tschetschenien auch in der Ukraine passieren wird.