Denn: „Wie soll sich etwas bessern, wenn 37 Prozent im Land noch ungeimpft sind? So lange dieses Problem nicht beseitigt ist, brauchen wir nicht von einem Ende der Pandemie sprechen“, mahnt er im „Dolomiten“-Interview am Montag. <BR /><BR /><BR /><b>„Dolomiten“: Sind wir bei der Corona-Pandemie schon überm Berg?</b><BR />Prof. Bernd Gänsbacher: Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann sagt: Ein Experte ist nur dann ein Experte, wenn er auf einen großen Erfahrungsschatz zugreifen kann. Hier schreibt ein neuartiges Virus erst seine eigene Geschichte, also gibt es keine Erfahrungswerte – und deshalb müssen Experten vorsichtig sein.<BR /><BR /><b>„D“: Was heißt das konkret?</b><BR />Prof. Gänsbacher: Wir können noch nicht vorhersagen, wie der Dezember und der Jänner ausschauen werden. Klar ist, dass letztendlich dieses Virus von einem pandemischen in einen endemischen Zustand übergehen wird. Also jenen Zustand, den wir von den Schwester-Coronaviren, wie zum Beispiel den Coronaviren 229E oder HKU1, bereits kennen. Die kommen jedes Jahr wieder, sind für 10 bis 20 Prozent der Erkältungserkrankungen im Winter verantwortlich – ohne großen Schaden anzurichten. Sie können auch bei einzelnen Menschen Probleme bereiten, es ist aber nichts im Vergleich zu einer Pandemie, die den Planeten wie ein Tsunami überflutet.<BR /><BR /><b>„D“: Sehen Sie einen Unterschied zwischen diesem und dem vergangenen Herbst?</b><BR />Prof. Gänsbacher: Kein Vergleich! Es ist viel, viel besser! Vor einem Jahr ist das Virus auf eine Population getroffen, in der sehr wenige Menschen eine Hintergrundimmunität hatten. Und im Oktober 2021 haben wir ja viele Länder in Europa, in denen 60 bis 80 Prozent der Menschen bereits durchgeimpft sind. Das beeinflusst die Ausbreitung des Virus ganz stark. Nehmen wir als Vergleich Island. 80 Prozent der Gesamtbevölkerung und 99 Prozent der über 70-Jährigen sind geimpft. Die bisher größte Infektionswelle, durch Delta verursacht, klingt gerade ab, aber was das Wichtigste ist, es gibt seit Wochen keinen einzigen Covid-Toten. Das ist ein Beispiel von vielen, das zeigt, welchen Unterschied die Impfung bei der Sterblichkeit macht. <BR /><BR /><b>„D“: Südtirol ist beim Impfen nach wie vor auf allen Ebenen Schlusslicht in Italien. Besorgt?</b><BR />Prof. Gänsbacher: Impfbefürworter und Impfgegner haben ja eigentlich dasselbe Ziel: Dass das Virus endlich verschwindet. Es ist schade, dass es in Südtirol trotz gemeinsamem Ziel eine größere Anzahl an Menschen gibt, die das Erreichen dieses Zieles behindern. Dass wir weniger Geimpfte haben, heißt, dass das Virus bei uns gehäufter auftreten und mehr Schaden anrichten wird. <BR /><BR /><b>„D“: Auf den Intensivstationen liegen nur mehr Ungeimpfte. Mehr Beweis für das Funktionieren der Impfung geht nicht. Können Sie die Impfgegner verstehen?</b><BR />Prof. Gänsbacher: Ja, zum Teil schon, weil ich überzeugt bin, dass viele dieser Menschen Informationen, die es im Internet gibt, falsch interpretieren, falsch auslegen und auf die falschen Quellen zugreifen. Es gibt aber auch Menschen, die nicht die Zeit haben, sich gründlich zu informieren. Und da der Mensch generell Angst hat vor allem Neuen, ergibt sich eine ablehnende Haltung. Hier haben wir gleich 3 Bereiche, die unbekannt sind: Eine Pandemie mit einem Virus, das noch nie vorgekommen ist, eine Impfung, die eine Strategie verwendet, die es noch nie gegeben hat, und dass die Komplexität der Dinge es vielen Menschen nicht ermöglicht, die Problematik zu verstehen. Das ist eine Konstellation, die zur Folge hat, dass ein bestimmter Prozentsatz der Leute die Entscheidung trifft, die eigentlich nicht zu ihrem Vorteil ist. Dass Impfungen wirken, weiß jeder. Denken wir an Kinderlähmung. Wer in Südtirol kennt ein Kind mit Kinderlähmung. Die Polio-Impfung hat dieses Problem eliminiert. Zu betonen ist, dass das Polio-Virus ein RNA-Virus ist.<BR /><BR /><b>„D“: Dennoch sagen viele, die Corona-Impfstoffe seien zu wenig erforscht ...</b><BR />Prof. Gänsbacher: Wer bei 5 Milliarden verabreichten Corona-Impfdosen noch Zweifel daran hat, dass man die Nebenwirkungen nicht einschätzen kann, der muss sich doch die Frage stellen: Bei welchem anderen Medikament kann man auf einen solchen Datensatz zurückgreifen? Das gibt es bei keinem anderen Medikament der Welt. Man hat im New England Journal of Medicine vor einem Monat Daten publiziert, die bei einer Gruppe von einer Million Menschen, die entweder geimpft oder vom Coronavirus infiziert waren, gezeigt haben, dass fast alle Nebenwirkungen, die bei der Impfung auftreten können, um das 5- bis 10-Fache vermehrt bei der Infektion mit dem Virus auch auftreten können. Das gilt z.B. auch für die Myokarditis, die bei Jugendlichen auftreten kann.<BR /><BR /><b>„D“: Viele zweifeln auch an der Impfung, weil man sich trotz zweifacher Dosis infizieren kann.</b><BR />Prof. Gänsbacher: Die Impfung ist ausgerichtet, vor symptomatischen Verläufen, Hospitalisierung und Todesfällen zu schützen. Und das ist auch großteils gelungen. Dass die Antikörper, die durch die Impfung induziert werden, mit der Zeit abfallen, ist völlig normal und logisch. Das liegt in der Natur der Sache. Wir werden im Laufe unseres Lebens mit Tausenden von Erregern infiziert. Ist ein Erreger von unserem Immunsystem abgewehrt, werden die Antikörper, die nicht mehr gebraucht werden, viel weniger produziert. Der Antikörperspiegel fällt folglich ab. Wenn wir gegen alle Erreger, mit denen wir im Laufe unseres Lebens in Kontakt kommen, höchste Antikörperkonzentrationen ein ganzes Leben lang behalten würden, wäre das mit unserem Leben wohl gar nicht kompatibel. <BR /><BR /><b>„D“: Die dritte Dosis war also absehbar?</b><BR />Prof. Gänsbacher: Man muss nur auf die anderen RNA-Viren, wie die Influenza, schauen. Auch da muss man jedes Jahr impfen. Der Grund dafür: Erstens sind RNA-Viren nicht sehr immunogen, d.h. vom Immunsystem nicht gut sichtbar, und zweitens haben die RNA-Viren eine intrinsische Tendenz zu mutieren. Die Schwester-Coronaviren, die es schon seit 100 Jahren gibt, kommen jedes Jahr zurück, verursachen Erkältungskrankheiten, lösen aber nur eine schwache Immunantwort aus. Das ist nur möglich, wenn die Infektion wenig Antikörper auslöst. Außerdem gibt es genügend Beispiele, die zeigen, dass eine dritte Impfung die Immunität verstärkt: So ist es bei Tetanus, Diphtherie, Pneumokokken, Pertussis, Polio und Hepatitis.<BR /><BR /><b>„D“: Also bleiben Maske, Abstand, Hygiene, Lüften und Testen weiter wichtig?</b><BR />Prof. Gänsbacher: Absolut. So lange diese Pandemie noch weiter durch Todesfälle, Long-Covid usw. anhält, sind die AHA-Regeln essenziell. Wenn das Virus sich dann einmal in ein endemisches Virus umgewandelt hat, das genauso auftritt wie die Influenza, kann man Maßnahmen ergreifen, wie wir es bei der normalen Grippe gewohnt sind. <BR /><BR /><b>„D“: Großes Thema ist das Impfen von Kindern und Jugendlichen. Impfen oder nicht?</b><BR />Prof. Gänsbacher: Bei Kinderimpfungen bin ich auch sehr vorsichtig und kritisch. Ich finde, das Verhalten der Stiko (Ständige Impfkommission, Anm. d. Red.) in Deutschland hervorragend. Nach der klinischen Studie der 12- bis 16-Jährigen, die mit 3000 Probanden durchgeführt worden war, hat die Impfkommission gesagt, man solle noch abwarten, um mehr Daten zu bekommen. Man wusste, dass in den USA und Kanada im Juli und August 8 Millionen Jugendliche geimpft werden. Ende August haben sie sich diesen Datensatz angeschaut. Die Datenlage war hervorragend und sie haben die Impfung empfohlen. Dem schließe ich mich auch an. Wie es mit den Jüngsten aussieht, kann ich nicht sagen, weil die klinischen Studien erst gemacht werden. Nur wenn die Datenlage überschaubar ist und die Nebenwirkungen klar definierbar sind, soll eine Entscheidung getroffen werden. <BR /><BR /><b>„D“: Wann ist ein Ende der Pandemie absehbar?</b><BR />Prof. Gänsbacher: Das kann ich nicht sagen. Aber nehmen wir das Beispiel Singapur. Dort sind 80 Prozent der Menschen durchgeimpft. Die haben zwar zurzeit eine hohe Infektionsrate, aber ganz wenig Todesfälle und relativ wenig Hospitalisierungen. Man könnte die Hypothese aufstellen, dass gerade dort jetzt die Umwandlung von einem pandemischen in ein endemisches Virus sichtbar wird. Trotzdem ist es aber möglich, dass in Südtirol in diesem Winter die Sache noch einmal richtig ernst wird, gerade, weil ein Pool an Menschen in Südtirol noch ungeimpft ist. Wie soll sich etwas bessern, wenn rund 37 Prozent im Land noch ungeimpft sind, wo das Virus paradiesische Zustände vorfindet und die Menschen problemlos infizieren kann? Solange dieses Problem nicht beseitigt ist, brauchen wir nicht von einem Ende der Pandemie sprechen. <BR /><BR /><b>„D“: Die Südtiroler haben es also selbst in der Hand?</b><BR />Prof. Gänsbacher: Jede Bevölkerung hat es selbst in der Hand. Und es muss oberstes Ziel der Gesellschaft sein, möglichst viel Geimpfte zu haben, damit das Virus nicht die Möglichkeit hat, Ungeimpfte und Immungeschwächte zu infizieren und auszutesten, wie es die Immunabwehr am besten umgehen kann und impfresistente Mutanten zu bilden. <BR /><BR /><i>Interview: Michael Eschgfäller</i><BR />