„Was für ein asozialer Prolet!“ Solche und ähnliche Gedanken stehen vielen Passanten ins Gesicht geschrieben, wenn sie sehen, wie der getunte Audi TT RS auf den gelb markierten Parkplatz für Beeinträchtigte einbiegt. „Steige ich dann aber aus, schauen die meisten ganz verdutzt. Zu sagen traut sich keiner was“, erzählt Michael Gasteiger und muss ein wenig schmunzeln. Der 30-jährige Ahrntaler darf dort nämlich parken. <BR /><BR />Obschon er das nicht oft mache, wie er sagt. „Ich möchte nicht bevorzugt werden, ich kann auch ein paar Meter zu Fuß gehen.“ Seine Schritte sind jedoch gezählt. Denn an seinen Unterschenkeln hängen zwei Drei-Kilo-Prothesen aus Carbon. Sie reiben schon mal auf der Haut, schmerzen bei langem Gehen am Stumpf – doch sie tragen ihn seit vier Jahren durchs Leben. Sein neues, anderes Leben. „Ein zufriedenes Leben, das mir mein Schicksal – aus welchem Grund auch immer – geschenkt hat“, sagt Michael über den Tag, den er seinen zweiten Geburtstag nennt. Gefeiert wird er aber nicht. <h3> „Klar war es nicht einfach“</h3>Was genau an jenem 21. Oktober 2018 passiert ist, weiß der Ahrntaler selbst nicht mehr. Der begnadete Baggerfahrer war auf dem Weg zur Arbeit, als er im Dorf mit seinem Kleinwagen gegen das versenkte Ende einer Leitplanke krachte, woraufhin der Pkw auf dem Autodach liegen blieb. „Ich erinnere mich nur noch, wie ich in Bruneck in den Rettungshubschrauber geschoben wurde“, erzählt Michael Gasteiger. <BR /><BR />Es ging für den damals 26-Jährigen in die Universitätsklinik nach Innsbruck. Von dort kam am späten Nachmittag des Unfalltages auch der Anruf, an den sich Michaels Vater Franz noch erinnert, als wäre es gestern gewesen. „Papa ich hab keine Füße mehr. Fahr mit meinen Freunden zu mir!“, lautete die Bitte seines Sohnes am anderen Ende der Leitung.<BR /><BR />Es war inzwischen schon fast 20 Uhr, aber Michaels Freunde ließen sich nicht zweimal bitten. Noch am selben Abend startete Franz mit einer Gruppe von Freunden nach Innsbruck, und in der Folge riss der Strom an Kollegen nicht ab. „An Wochenendtagen ging es fast zu wie auf einem Markt. Manchmal waren über 30 Freunde zu Besuch“, erzählt der weitum beliebte Bursche von seinen 28 Tagen Klinik-Aufenthalt in Innsbruck. „Klar war die erste Zeit nicht einfach, doch in dieses berühmte Loch bin ich nie gefallen“, erinnert sich Michael zurück. Er wusste von jenem Tag an, an dem er seine Beine nicht mehr spürte, dass er nur zwei Optionen hat: nach vorne schauen, oder sich fallen lassen. <h3> „Sei froh, jetzt hast du keinen Zehenkäse mehr!“</h3>„Es gibt in St. Johann noch einen Mann mit Prothesen, und ich dachte mir, wenn der das meistert, dann schaffe ich das auch. Es bringt ja nichts, dem nachzutrauern, was nicht mehr ist.“ Mehr als er selbst, hätten seine Freunde mit der neuen Situation gehadert, weiß der junge Mann. Die wussten nämlich nicht, ob sie scherzen und ihn aufheitern oder weinen und mit ihm mitfühlen sollten. Doch für den 26-Jährigen war Lachen die beste Medizin, und so dauerte es nicht lange, bis Sprüche kamen wie: „Sei froh, jetzt hast du keinen Zehenkäse mehr!“ Was für Außenstehende geschmacklos erscheinen mag, war für Michael essenziell, um seinen Lebensmut nicht zu verlieren. Denn die Genesungszeit gestaltete sich intensiv und langwierig. <BR /><BR />Fünf Mal lag er in Folge auf dem Operationstisch – etwa um Haut vom Oberschenkel zu transplantieren oder die Beinlängen anzugleichen. Phantomschmerzen stachen wie ein Messer in seine Fußsohlen. Die erste Dusche nach einem Monat bezeichnet Michael heute als Wellnessurlaub – hatte er doch zuvor viele Tage und Nächte im Bett verbracht, hängend am Katheter oder am VAC. „Dieses Gerät saugt die Wundflüssigkeit ab und hat die Größe eines Baustellenradios“, erklärt der beherzte Baggerfahrer und Autoliebhaber. Kein Wunder, dass die erste und wichtigste Frage nach der Diagnose die war, ob der denn je wieder hinter einem Lenkrad sitzen könne. Die Antwort heute lautet: Ja!<h3> „Madonna, bin ich groß!“</h3>Poliert und gestriegelt steht der Audi TT Coupé vor dem Rohbau seines Einfamilienhauses in St. Johann. Gleich nebenan sitzt Michael im gelben Caterpillar und gräbt mit dem Bagger den Aushub für die Erschließung. Im Frühjahr soll sein Eigenheim, das er alleine bezieht, fertig sein. Das Schlafzimmer kommt ins Parterre, das Bad ist rollstuhlgerecht, und ins obere Stockwerk führt ein Aufzug. Nach einem Zwölfstundentag sei Michael nämlich froh, seine Beinprothesen mitsamt der Arbeitshose abzustreifen und sich auf Rädern fortzubewegen. Wie man den Rollstuhl richtig manövriert, hat er im Reha-Zentrum Bad Häring (Nordtirol) gelernt. Eine wertvolle Zeit, die ihn über sich hinauswachsen ließ. Ein Team von Experten kümmerte sich dort nämlich intensiv um den verunfallten jungen Mann. Das gemeinsame Ziel: ihn schnellstmöglich „gehen“ zu lassen. Selbstständig. <BR /><BR />An den Augenblick, als Michael in der Gangschule zum ersten Mal auf seinen Prothesen stand, kann er sich noch gut erinnern. „Madonna, bin ich groß, ist das weit oben!“, genoss er die Aussicht im Stehen, und eine unglaubliche Woche später konnte er tatsächlich alleine darauf laufen. Das Körpertraining, das er aus Langeweile bereits im Krankenhaus begonnen hatte, kam ihm zugute und half immens, schneller als erwartet auf die Carbon-Beine zu kommen.<h3> „Die Querschnittgelähmten waren meine Therapie“</h3>Einmal im Jahr fährt Michael seitdem ins renommierte Reha-Zentrum. Die Prothesen müssen nachjustiert werden, und so manche Gehbewegung muss wieder flüssiger vonstattengehen. „Die Geschmeidigkeit beim Gehen ist mit Prothesen natürlich schwierig. Darum trage ich die meiste Zeit im Jahr auch kurze Hosen. So muss ich meine Gangart niemandem erklären.“ Michael braucht keine Anerkennung dafür, dass er auf den zwei Carbon-Schäften laufen kann. Er wünscht sich diese viel mehr für alle Rollstuhlfahrer. „Wenn man es nicht selbst probiert hat, weiß man gar nicht, was diese leisten und wie gut es einem geht, wenn man selbst auf die Toilette gehen kann.“ <BR /><BR />Vor allem der Kontakt mit jungen Querschnittgelähmten habe dem Ahrntaler gezeigt, dass es ihn hätte weit schlimmer treffen können. Seine beste Therapie, wie er sagt. „Sie zu sehen, hat mich dankbar gestimmt, dass ich mit zwei Prothesen davongekommen bin.“ Anstatt zum Psychologen in der Abteilung fuhr Michael darum lieber mit seinem Rollstuhl in den Park, traf sich dort mit Freunden – oder besuchte mit seinen Chefs des Ahrntaler Unternehmens „Brunner und Leiter GmbH“ die Baumesse in München. „Meine Chefleute sind echt perfekt. Obwohl sie 160 Mitarbeiter haben, besuchten sie mich fast wöchentlich.“ Und auch in den Folgemonaten daheim, wenn es Michael zwischen Verbinden und Physiotherapie langweilig wurde, rief er im Betrieb an und machte mit einem der Chefs eine Runde auf den Baustellen. „Für sie war es nie ein Thema, ob ich es schaffen könne, zurückzukommen. Sie sagten: Du kommst zurück.“ Und so war es. <h3> „Ich habe noch immer Benzin im Blut“</h3>Seit Juli 2019 arbeitet der Baggerfahrer wieder Vollzeit. Über ein Berufswiedereingliederungsprogramm soll er nun endlich auch einen umgebauten Bagger bekommen, der seinem Handicap entgegenkommt. Denn: Ein Jobwechsel wäre für Michael undenkbar. „Viele können es vielleicht nicht verstehen, aber ich liebe das Baggerfahren, die Motorengeräusche und die PS. Ich habe noch immer Benzin im Blut“, erzählt der gelernte Mechaniker, der dies schon einmal öffentlich unter Beweis stellte. Gemeinsam mit zwei Freunden nahm der Autofreak 2018 – einen Monat vor seinem Unfall – am „Devil-Race“ des Senders „DMax“ teil. Das Teufelsrennen wurde mit einem umgebauten Honda für 5000 Euro bestritten. Als Außenseiter angetreten, gewannen die drei Südtiroler mit zwei Sekunden Vorsprung tatsächlich diesen von Sophia Thomalla moderierten Höllenritt. <BR /><BR />Der Honda hat mittlerweile ausgedient, auch Michaels weißer Golf 6R, den er nach seinem Unfall nicht mehr bedienen konnte, wurde verkauft. „Doch ohne Auto hielt ich es nicht lange aus“, verrät er den Grund für seine rote Neuanschaffung. Das TT-RS-Coupé ist nicht nur die Sensation beim Mühlener Tuningtreff, den Michael mit seinem Verein „Deeps“ organisiert. Kurvt er sonntags in seinem Flitzer mit Handgas, Carbonsitzen, getuntem Heckspoiler und Carbon-Kotflügeln über die heimischen Passstraßen, sind ihm die Blicke ebenfalls gewiss. <BR /><BR />Ein Bergrennen zu bestreiten, das steht auf der Liste seiner Lebensträume ganz oben. Momentan aber fehlen Geld und Zeit – und manchmal die Kraft. Das Wochenende braucht der einstige Tourenski-Geher und Partytiger heute zum Ausruhen und Schonen. Mit der Tatsache, dass er mit seinen Prothesen wohl nie einen Marathon laufen oder den Everest besteigen kann, damit kann Michael gut leben. Das habe er auch mit gesunden Beinen nicht vorgehabt. <BR /><BR />