Renate Kokot (78) liebt Ballett. Sie lebt für das Ballett. Und das schon (fast) ihr ganzes Leben. Mit sieben Jahren absolvierte sie ihren ersten Tanzkurs, tanzte 18 Jahre lang professionell auf der Bühne, unter anderem an der Deutschen Staatsoper in Berlin, damals noch in der DDR. Nur einmal war eine Liebe stärker als die zum Ballett: Jene zu ihrem ersten Ehemann, dem sie nach Südtirol folgte. Für ihn gab sie ihre Tanzkarriere in Berlin auf, verzichtete sogar auf ihre letzten Auslandstourneen, unter anderem nach Japan und Moskau. <BR /><BR />„Das war ganz schön traurig. Aber es hat dem Regime nicht gepasst, dass ich einen Freund aus dem kapitalistischen Ausland hatte“, erinnert sich Renate Kokot. Sie habe gewusst, dass so etwas passieren würde. „Das war damals gang und gäbe. Dabei war ich doch so in meiner Tradition verwurzelt, ich wäre ja nie geflüchtet“, betont sie. Eine kleine „Rache“ leistete sie sich nach der Hochzeit und ihrer letzten Spielzeit in Berlin – als sie ihre Koffer packte und 1982 nach Südtirol zog. „Ich habe alles mitgenommen, bis auf den letzten Nagel und die letzte Glühbirne. Alles.“ Alles, nur keinen Plan, wie es denn nun mit dem Tanzen weitergehen sollte. <h3> An der (Gardinen-)Stange</h3>Der Umzug vom zweigeteilten Berlin ins kleine Salurn war zwar kein Kulturschock, erzählt Renate Kokot heute. Sehr wohl habe ihr aber das Tanzen gefehlt. Große Bühnen gab es keine in der Nähe, lediglich in Mailand – oder in Österreich. Kurz erwägte sie, Bäuerin zu werden, wenn das mit dem Tanzen nichts wird: „Ich saß sogar schon einmal auf dem Traktor.“ Doch es sollte anders kommen. <BR /><BR />Erst führte ihr Weg als Dozentin an eine Ballettschule nach Trient, dann in die Nähe von Modena. Bis der Kulturverein Buchholz – wo sie auch heute noch wohnt – fragte, ob sie denn nicht Ballettstunden in der kleinen Salurner Fraktion geben könne. „Ein Studio gab es nicht. Sie haben einfach Gardinenstangen an die Wand montiert – und so habe ich dann 15 bis 25 Schüler unterrichtet“, schmunzelt die 78-Jährige. <BR /><BR />Bei Gardinenstangen sollte es nicht bleiben: Das Ballettstudio in Neumarkt, in dem Renate Kokot in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 500 Schülerinnen und Schüler das Tanzen gelehrt hat, war einst die Turnhalle der Mittelschule. Als der Raum zum Verkauf stand, schlug Renate zu. Und als dann noch der Friseursalon nebenan auf den Markt kam, wurde kurzerhand die Wand durchgeschlagen und als Vorraum, Umkleideraum und große Garderobe mit dem Studio fusioniert. <h3> Stolz auf ihre Schüler</h3>Auf den Fotos an den Wänden tanzen Gerti Drassl, Evelyn von Dellemann und Anita Harb, auf ewig in Schwarz-weiß und auf Spitze festgehalten. Von Renate selbst findet man nur ein einziges Bild in einer Ecke. Sie ist stolz auf ihre Schülerinnen und Schüler, die sie stets mit viel Disziplin und Genauigkeit unterrichtet hat. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1165650_image" /></div> <BR />„Ich habe mich immer nach dem professionellen Standard gerichtet. Egal, ob ein Schüler mehr Talent hatte oder weniger: Ich habe sie alle gleich behandelt.“<BR /><BR />So viel Professionalität an einer Laien-Ballettschule in Südtirol sorgte für Staunen, auch in der deutschen Hauptstadt. „Wenn ich mit meinen Schülern zum Vortanzen an die staatliche Ballettschule in Berlin gefahren bin, waren sie immer so gut vorbereitet, dass sie in einer Gruppe aus professionellen Tänzern kaum auffielen“, erzählt sie mit Stolz.<BR /><BR /> Professionalität sei Zentimeterarbeit: „Da muss jede Fingerhaltung, jede Fußstellung sitzen. Und das muss man den Kindern eben eintrichtern, immer und immer wieder, mit viel Geduld.“ <BR /><BR /><embed id="dtext86-69872363_quote" /><BR /><BR />Nicht weniger als zehn Schülerinnen und Schülern verhalf sie zur Professionalität, fuhr auch immer persönlich mit zur Eignungsprüfung nach Berlin. „Das hat meine Ballettlehrerin damals mit mir gemacht, und ich habe das sehr geschätzt. Und das wollte ich meinen Schülern weitergeben.“ <BR /><BR />Einige ihrer Eleven, die seit 1985 vom „Verein für Ballettfreunde Unterland-Überetsch“ gefördert werden, sind heute weltbekannt und tanzen an großen Häusern, darunter Timoteo Mock, Matthias Kastl und Francesco Resch. Dann und wann kehren sie aber auch für einen Gastauftritt bei ihrer ehemaligen Ballettlehrerin zurück. <BR /><BR />„Das Kuriose ist, dass wirklich viele meiner Schüler lange geblieben sind, vom Kindesalter bis ins Studium. Die kamen immer wieder, selbst als Erwachsene! Einige unterrichte ich noch heute.“ <BR /><BR />Mittwochabend ist Damentag. Dann treffen sich ehemalige Schülerinnen, heute zwischen Ende 30 und über 60 Jahre alt, zum Ballettunterricht. „Das macht mir sehr viel Spaß und auch die Damen haben viel Freude damit“, so Kokot. Die Übungen sind den körperlichen Herausforderungen des Alters angepasst, immerhin sollen die Bewegungen Spaß machen. „Und trotzdem gibt jede ihr Bestes, keine schludert, nur, weil sie älter ist oder den ganzen Tag gearbeitet hat. Das bewundere ich sehr.“<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1165653_image" /></div> <h3> Die letzte große Aufführung</h3>Gemeinsam mit den jungen Ballettschülerinnen stehen die Damen am kommenden Mittwoch auf der Bühne – für eine „letzte große Veranstaltung“, wie Renate Kokot betont. Eigentlich hatte sich 78-jährige bereits vor zwei Jahren von der Öffentlichkeit verabschiedet, neue Schüler nahm sie keine mehr an. Nun ließ sie sich noch einmal überreden, einen Ballettabend zu organisieren. <BR /><BR />„Das wird aber wirklich meine letzte große Aufführung sein“, betont Kokot. Zu anstrengend ist die Vorbereitung, es fehlt die Kraft. Verständlich, wenn man bedenkt, dass dort, wo Renate Kokot draufsteht, auch zu 100 Prozent Renate Kokot drin ist. Von der Auswahl der Musik über die Choreografie hin zur Gestaltung der Programme und sogar der Vermessung der Bestuhlung, ja, jedes einzelne Kostüm wird von der Perfektionistin handgenäht. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1165656_image" /></div> <BR /><BR />„Die Bühne baue ich nicht auf, aber der Boden muss ja präzise verlegt werden, da rutsche ich dann auf meinen Knien rum, um sicherzustellen, dass alles passt“, lacht sie. So viel Einsatz fordert seinen Tribut, auch körperlich. Noch zwei Jahre möchte sie unterrichten und mit ihren Eleven zu Wettbewerben fahren – „da sind wir eigentlich noch nie ohne Preise nach Hause gekommen.“ Spätestens mit 80 soll dann Schluss sein, sagt sie. <BR /><BR />Doch was ist Renate Kokot ohne Ballett eigentlich? „Ein trauriger Mensch.“ Und: „Ballett war nie ein Beruf für mich, sondern eine Berufung, schon immer. Ich habe jeden Moment geliebt, es war mir nie zu viel.“ <BR /><BR />Eine Idee für den Ruhestand hat sie bereits: einen Bildband mit den Fotos ihrer Schülerinnen und Schüler zusammenzustellen, „vielleicht mit der einen oder anderen Anekdote dazu. Das wäre eine reizvolle Sache.“