<b>von Nina L. Chruschtschowa</b><BR /><BR />Nach dem jüngsten Treffen zwischen Russland und der Ukraine in Istanbul und dem anschließenden Telefongespräch des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit US-Präsident Donald Trump erinnern die beiden Köpfe des Adlers auch an die Zwiespältigkeit des Landes, die es in entgegengesetzte Richtungen ziehen – und möglicherweise auseinanderreißen.<BR /><BR />Putin hat im Ukraine-Krieg letztendlich die Oberhand gewonnen. Russische Truppen machen (zugegebenermaßen langsame) Fortschritte bei der vollständigen Eroberung der Regionen, die Russland im September 2022 für sich beanspruchte: Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja.<BR /><BR /> Dies gelingt Russland trotz beispielloser Sanktionen und westlicher Unterstützung für die Ukraine in Höhe von vielen Milliarden Dollar. Putin sendet damit eine klare Botschaft an den Westen und alle potenziellen Herausforderer: Unterschätzt Russland niemals. Es gab noch nie einen besseren Zeitpunkt, um die Kämpfe zu beenden.<BR /><BR />Doch bei den ersten direkten Gesprächen zwischen beiden Seiten seit Kriegsbeginn, die letzte Woche in Istanbul stattfanden, stellte die russische Delegation eine Liste mit rigorosen Forderungen auf – von denen feststand, dass die Ukraine sie nicht akzeptieren würde – und drohte mit einem „ewigen Krieg.“ <BR /><BR />Man darf nicht vergessen, dass der Delegationsleiter kühl anmerkte, Russland habe im 18. Jahrhundert 21 Jahre lang gegen Schweden gekämpft. Als die Gespräche nach nur wenigen Stunden beendet wurden, brach der russische Aktienmarkt ein - eine klare Abfuhr seitens der Investoren.<BR /><BR />Am 19. Mai bestätigte Putin in dem zweistündigen Gespräch mit Trump im Wesentlichen die Forderungen seiner Delegation. Doch während er und Trump noch miteinander sprachen, zeigten sich die Investoren optimistisch hinsichtlich eines hoffnungsvollen Ausgangs und prognostizierten einen Dollar-Kurs von 78 Rubel (bis vor kurzem lag er noch bei über 100).<h3> Die meisten Russen wollen, dass der Krieg endet</h3>Auch die meisten gewöhnlichen Russinnen und Russen wollen, dass der Krieg endet. Zwar würden nur wenige das Risiko einer Verhaftung eingehen und offen den Frieden fordern, doch laut dem unabhängigen Levada-Center berichten etwa zwei Drittel der Bevölkerung, dass sie eine Fortsetzung der Militäraktion ablehnen, und 48 Prozent zählen Krieg zu ihren größten Ängsten. Bis zu 47 Prozent der Russinnen und Russen glauben, dass der Krieg in der Ukraine mehr Schaden als Nutzen gebracht hat.<BR /><BR />Jahre des Krieges und der Sanktionen haben das Leben in Russland zum Schlechteren verändert. Früher hatten die Menschen Ersparnisse. Heute geben sie alles aus, was ihnen zur Verfügung steht, und nehmen sogar Kredite auf. Laut dem Forschungsunternehmen Romir gab der durchschnittliche russische Haushalt zwischen dem 5. und 11. Mai für Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs 8.098 Rubel (89,18 Euro) aus, verglichen mit 6.080 Rubel in der gleichen Woche des Jahres 2023. <BR /><BR />Dieser Anstieg verdeutlicht nicht nur die hohe Inflation, unter der Russland seit Kriegsbeginn leidet, sondern auch die Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft. Die Menschen haben so große Angst vor dem, was morgen kommt, dass sie versuchen, heute so gut wie möglich zu leben.<BR /><BR />Aber „so gut wie möglich“ zu leben ist nicht dasselbe wie gut zu leben. Man denke nur an Urlaub. Angesichts der strengen Sanktionen für Auslandsreisen und des schwachen Rubels ist der Inlandstourismus für die meisten Menschen in Russland die einzige Option. Doch die Schwarzmeerküste, normalerweise ein beliebtes Urlaubsziel, ist mit Schweröl verseucht. Kein Wunder, dass selbst laut offiziellen Meinungsumfragen – die in Autokratien immer unzuverlässig sind – nur rund 40 Prozent der Russinnen und Russen glauben, dass sich ihr Leben in den nächsten Jahren verbessern wird.<h3> Schreckgespenst Wehrpflicht</h3>Ganz zu schweigen vom Schreckgespenst der Wehrpflicht. Putin behauptet gerne, dass Russland im Gegensatz zur Ukraine keine Menschen auf der Straße „einfangen“ muss, um sie in den Kampf zu schicken, da sich jeden Monat 50.000 bis 60.000 Freiwillige zum Kampf melden. Diese „Freiwilligen“ werden jedoch in Wirklichkeit von regionalen Führern – die vom Kreml vierteljährliche Quoten vorgegeben bekommen - bezahlt oder zum Militärdienst gezwungen.<BR /><BR />Diese Regionalpolitiker sind sich sehr wohl bewusst, dass sich Kriegsmüdigkeit breitmacht. In einem kürzlich erschienenen Interview gab Oleg Koschemjako, Gouverneur der Region Primorsk im Fernen Osten Russlands, dies auch zu und wies darauf hin, dass die gigantischen Summen, die für den Krieg ausgegeben werden – statt für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung – die Unzufriedenheit verschärfen. Koschemjako betonte zwar sein eigenes patriotisches Engagement für die Sache, beklagte jedoch die massive Belastung der Ressourcen seiner Region. <BR /><BR />Die Regierung von Primorsk hat nicht nur Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Verkehr zu finanzieren; Koschemyakos Äußerungen deuten auch darauf hin, dass die Region – eine führende Bezugsquelle für Soldaten für den Ukraine-Krieg – den Forderungen des Kremls nach immer mehr Truppen nicht mehr nachkommen kann.<h3> Kreml ist gespalten</h3>Und doch bleibt der Kreml so gespalten wie der doppelköpfige Adler. Ein Ende des Ukraine-Kriegs könnte eine Welle der Euphorie auslösen, die Putin mehr Rückhalt verschafft. Kommt ein Friedensabkommen jedoch zu früh, könnte sich diese Euphorie vor den Parlamentswahlen im September 2026 verflüchtigen und in Unzufriedenheit über die schlechte Wirtschaftslage und den sinkenden Lebensstandard der meisten Menschen in Russland umschlagen. <BR /><BR />Wie können Russlands Führer – von Putin bis zu den Regionalgouverneuren – für den Erhalt der Ordnung (und ihrer eigenen Positionen) sorgen, wenn es ihnen nicht mehr gelingt, ihre Wählerschaft mit äußeren Bedrohungen von ihren harten Lebensbedingungen abzulenken?<BR /><BR />Derzeit debattiert die regierende Partei „Einiges Russland“ noch darüber, wie sie sich für die Wahlen im nächsten Jahr am besten positionieren soll: als „Partei des Sieges“, die den andauernden Krieg nutzt, um den Patriotismus zu stärken, oder als „Partei des Friedens und des Aufschwungs“, die den Krieg heldenhaft beendet hat. Die Entscheidung dürfte jedoch nicht allein auf raffinierten wahltaktischen Überlegungen beruhen. Für Putin bedeutet jedes Friedensabkommen – so vorteilhaft es auch sein mag – Schwäche. Großmächte verhandeln nicht, sie unterwerfen.<BR /><BR /><b>Zur Autorin</b><BR /><BR />Nina L. Chruschtschowa ist Professorin für Internationale Angelegenheiten an The New School und Ko-Autorin des (gemeinsam mit Jeffrey Taylor verfassten) Buchs In Putin’s Footsteps: Searching for the Soul of an Empire Across Russia’s Eleven Time Zones (St. Martin’s Press, 2019).