<b>Nirgendwo in Italien sind die Impfraten so niedrig wie in Südtirol. Der Grund?</b><BR />Prof. Dr. Christian Wiedermann: Südtirol ist eine besondere Region – kulturell vielfältig, mehrsprachig, mit einer stark ausgeprägten Eigenidentität. Studien zeigen, dass hier mehr Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und Gesundheitseinrichtungen herrscht. Viele Menschen fühlen sich von Impfkampagnen nicht persönlich angesprochen, weil sie Informationen als zu technisch oder einseitig empfinden. Hinzu kommen eine stärkere Nähe zur Alternativmedizin und die Tendenz, sich eher im privaten Umfeld als bei Behörden zu informieren.<BR /><BR /><embed id="dtext86-70819816_quote" /><BR /><BR /><b>Besonders bei Impfungen, die Kleinkindern empfohlen werden, ist man Schlusslicht in Italien. Warum?</b><BR />Prof. Dr. Wiedermann: Die Gründe sind vielfältig. In Interviews mit impfskeptischen Eltern wurde deutlich: Sie wollen selbst entscheiden, vertrauen mehr dem eigenen Umfeld als öffentlichen Empfehlungen und lehnen staatliche Vorgaben oft ab. Viele berichten von negativen Erfahrungen mit Ärzten oder Impfstellen. Auch spielt die Vorstellung eine Rolle, dass Kinder gesund aufwachsen, „wenn man sie einfach lässt“. Hinzu kommt: Besonders in der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe orientieren sich viele Familien stärker am deutschsprachigen Ausland, wo die gesetzlichen Vorgaben und der gesellschaftliche Umgang mit Impfungen zum Teil anders sind. Dieses grenzüberschreitende Informationsverhalten beeinflusst die Impfentscheidungen in Südtirol erheblich.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1194666_image" /></div> <BR /><b>Sind freiwillige Schutzimpfungen nachgefragter?</b><BR />Prof. Dr. Wiedermann: Ja, das ist so. In Südtirol gibt es vergleichsweise reges Interesse an freiwilligen Impfungen wie Zecken- oder Reiseimpfungen – also dort, wo Menschen selbst entscheiden können, was für sie sinnvoll ist. Studien zeigen, dass Menschen, die Impfungen aus Eigenmotivation heraus machen (z. B. vor einer Fernreise), sich besser informiert fühlen und weniger Druck empfinden. Der Unterschied liegt oft nicht in der Impfung selbst, sondern in der Wahrnehmung: Freiwillige Impfungen werden als persönliche Entscheidung gesehen und damit eher akzeptiert.<BR /><BR /><embed id="dtext86-70819903_quote" /><BR /><BR /><b>Welchen Einfluss hatte Corona auf das Impfverhalten der Südtiroler?</b><BR />Prof. Dr. Wiedermann: Die Corona-Pandemie hat in Südtirol eine ambivalente Wirkung gehabt. Einerseits hat sie Aufmerksamkeit auf das Thema Impfen gelenkt – viele Menschen wurden erstmals intensiver damit konfrontiert. Andererseits ist das Vertrauen in öffentliche Stellen stark gesunken. Die Zustimmung zur gesamtstaatlichen Impfstrategie ist zwischen 2021 und 2023 deutlich zurückgegangen – von 73 Prozent auf 64 Prozent. Besonders in der deutschsprachigen Bevölkerung wuchs das Misstrauen, auch durch Widersprüche in der öffentlichen Kommunikation. Viele fühlen sich durch staatliche Maßnahmen bevormundet und wünschen sich mehr Mitbestimmung.<BR /><BR /><b>Sie haben auch Studien zu diesem Thema durchgeführt. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, kurz zusammengefasst?</b><BR />Prof. Dr. Wiedermann: Unsere Studien zeigen: Impfverhalten hängt eng mit Vertrauen, Bildung und Gesundheitskompetenz zusammen. Menschen mit geringerer Bildung, wenig Vertrauen in Ärzten oder die öffentliche Kommunikation lassen sich seltener impfen. Auffällig ist auch, dass in Südtirol diese Gruppen überdurchschnittlich häufig in der deutschsprachigen und in der ländlichen Bevölkerung vertreten sind. Altruistische Motive – also andere durch Impfen schützen zu wollen – spielen bei jüngeren Erwachsenen eine größere Rolle als bei älteren. Das zeigt: Impfkommunikation muss zielgruppenspezifischer und vertrauensbildender werden. <BR /><BR /><embed id="dtext86-70819906_quote" /><BR /><BR /><b>Kann man etwas gegen Impfzögerlichkeit tun??</b><BR />Prof. Dr. Wiedermann: Ja, aber nicht mit Druck oder Angst. Was hilft, ist Vertrauen aufzubauen. Dafür braucht es Gesundheitspersonal, das offen und ohne Wertung aufklärt. Unsere Untersuchungen zeigen: In ländlichen Regionen kann die persönliche Beziehung z.B. zur Hausärztin entscheidend sein. Auch sind Informationen in einfacher Sprache, in mehreren Sprachen und mit Raum für Fragen wichtig. Wer sich verstanden und ernst genommen fühlt, entscheidet sich eher für eine Impfung. Es geht nicht darum, Menschen zu „überzeugen“, sondern sie gut zu informieren – damit sie selbst entscheiden können.<BR /><BR /><b>Zum Schluss noch eine Frage zur Entwicklung von Krebs-Impfstoffen, die viel Hoffnung geben. Sind sie vielversprechend?</b><BR />Prof. Dr. Wiedermann: Die Forschung an sogenannten Krebsimpfstoffen ist in den letzten Jahren deutlich vorangekommen. Es gibt Impfstoffe, die vorbeugend wirken – wie der HPV-Impfstoff gegen Gebärmutterhalskrebs – und solche, die zur Behandlung eingesetzt werden, also therapeutische Impfstoffe. Besonders bei Hautkrebs und bestimmten Formen von Lungen- oder Bauchspeicheldrüsenkrebs gibt es vielversprechende Ansätze. Die Hoffnung ist, das Immunsystem gezielt so zu aktivieren, dass es Tumorzellen erkennt und bekämpft. Diese Entwicklungen stecken noch in der klinischen Prüfung, aber sie gelten als großer Fortschritt in der personalisierten Medizin.