<BR /><b>Wie wird bei schweren Straftaten, die von Personen zwischen 14 und 18 Jahren begangen werden, vorgegangen?</b><BR />Michele Piccolin: Gemäß Artikel 98 StGB muss der Richter von Fall zu Fall prüfen bzw. von einem Fachmann prüfen lassen, ob der Minderjährige zum Zeitpunkt der Tat einsichts- und willensfähig war. Bewertet wird dabei der Reifegrad des Minderjährigen – unter Berücksichtigung der persönlichen, familiären, sozialen und umweltbedingten Umstände. <BR /><BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-68565346_quote" /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><b><Frage>Strafmündigkeit heißt also nicht automatisch Reife? </Frage><BR /></b>Piccolin: Das ist richtig. Das Gehirn eines 14- bis 15-Jährigen hat zwar mehr logisch-analytische Fähigkeiten als in jüngeren Jahren – zusammen mit einer erhöhten Fähigkeit, verschiedene emotionale Bandbreiten zu erfassen und zu erleben. Das bedeutet aber nicht automatisch eine angemessene Fähigkeit zur emotionalen Verhaltensintegration, zum Verständnis der emotionalen Zustände anderer, zur Modulation der Intensität der Erfahrung und schließlich zur moralischen Wertung. Das psychologische Gleichgewicht des Heranwachsenden ist prekär, da dieser weder über ein tief verwurzeltes Selbstkonzept noch über ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl verfügt, ja nicht einmal über ein gültiges Gefühl für die eigene Selbstwirksamkeit. <BR /><BR /><b><Frage>Welche Faktoren können da noch mitspielen?</Frage><BR /></b>Piccolin: Die physiologischen Reifungsschwankungen können durch negative Entwicklungserfahrungen erschwert werden, wie z. B. psychopathologische Prägung, Drogenabhängigkeit, Missbrauch unterschiedlicher Art und Schwere. Im Laufe der vergangenen Jahre sind aber noch andere Faktoren hinzugekommen, die zu einer Zunahme der psychischen Belastung bei Jugendlichen geführt haben.<BR /><BR /><b><Frage>Die da wären?</Frage><BR /></b>Piccolin: Die objektiven Ursachen können schwer zu finden sein, auch wenn einige Elemente immer wieder auftauchen. Dazu gehört die Tatsache, dass die heutige Gesellschaft stark auf das unmittelbare Wohlbefinden und den zur Schau gestellten Konsum ausgerichtet ist. Damit einher geht die zunehmende Schwächung des Familienkerns als Vermittler der ersten erzieherischen und kollektiven Werte. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft von Individuen, die im Grunde allein sind. <BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-68567300_quote" /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><b><Frage>Dabei waren wir doch noch nie zuvor in der Geschichte so vernetzt wie heute...</Frage><BR /></b>Piccolin: Das hat aber nicht nur positive Auswirkungen. Soziale Netzwerke nähren einen oft narzisstischen Selbstkult. Man denke auch an die virtuellen Realität gewalttätiger Spiele, die die Nachahmung aggressiver und übergriffiger Verhaltensweisen bis an die Grenze treiben, an künstliche Intelligenz und Deep Fake, und schließlich an das Dark Web, in dem man Beispiele für die gesamte Bandbreite menschlicher Verirrungen finden kann. Daraus ergibt sich eine Welt, die scheinbar ohne Grenzen ist – für eine No Limits-Generation, in der das Einzige, das nicht interessant zu sein scheint, Mäßigung, Normalität, ein friedliches Leben und Wachstum sind.<BR /><BR /><b><Frage>Wie kann man dieser Entwicklung gegensteuern?</Frage><BR /></b>Piccolin: Der strafende bzw. eindämmende Aspekt bleibt natürlich bei der „akuten“ Bewältigung des Einzelfalls nützlich und notwendig, scheint aber naturgemäß immer zu spät zu kommen. Um den Verlauf der neuropsychischen Entwicklung der neuen Generationen signifikant zu beeinflussen, wäre eine Änderung des derzeitigen Werte-, Produktions-, Kultur- und Beziehungsparadigmas wünschenswert und notwendig. Da dies jedoch äußerst unwahrscheinlich erscheint, sollten zumindest die Maßnahmen der Prävention, der Hilfe und der Überwachung des psychischen Wohlbefindens verstärkt werden – in erster Linie zugunsten der Jugendlichen mit psychologischen Beratungsdiensten in den Schulen und in Jugendtreffs, aber grundsätzlich zugunsten aller Bürger und der Familien im Besonderen, z.B. durch die Förderung der Basispsychologie.