Ihren Valentinstag erleben Benjamin Geyr (32) und Marion Pichler (36) heuer mit gemischten Gefühlen: Es ist zwar das erste gemeinsame Fest mit ihrem Wunschkind Lisa Marie, feiern können sie es aber nicht zusammen. Das Ehepaar ist gehörlos und lebt momentan unter besonderen Umständen. <BR /><BR /><BR />von Martina Hofer<BR /><BR /><BR />„Brrr Brrr“ – sanft vibriert der Babyrufsender unter Marions Leibchen. Er hat Geräusche vernommen und signalisiert dies der frischgebackenen Mutter. Tochter Lisa Marie weint, sie hat Hunger. Liebevoll hebt die 36-jährige Kaltererin ihr zwei Monate altes Mädchen aus der Wiege und stillt es mit der Flasche, bis es satt ist. Doch anders als bei der üblichen Stillzeit, geht die „stille Zeit“ für Lisa Marie auch nach dem Füttern weiter. Ihre Eltern Marion Pichler und Benjamin Geyr sind nämlich gehörlos. Sie kommunizieren miteinander ohne Lautsprache nur mit Gebärden – früher daheim in Benjamins Heimatort Mareit bei Sterzing – momentan im Eltern-Kind-Zentrum in Bozen.<BR /><BR />Seit 21. Dezember sind Marion und Lisa Marie hier liebevoll untergebracht. Fünf Tage nach der Geburt am 16. Dezember 2020 hat das Paar nämlich gemeinsam mit dem Sozialdienst beschlossen, dass Mutter und Tochter vorübergehend dort unterkommen. Nicht, weil sich Marion nicht hätte um ihre Tochter kümmern können – viel mehr traf man diese Entscheidung, damit die frischgebackene Mama ausreichend Unterstützung bekommt und langsam in die Mutterrolle hineinwachsen kann. Aufgrund der aktuellen Pandemie war es ihr nämlich nicht möglich, eine ambulante Betreuung in Form einer Hebamme oder Pädagogin zu bekommen, die bei Bedarf nach Hause kommt. Und telefonieren kann Marion nicht. So entschied man sich für das Heim, in dem ihr Erzieherinnen und Kinderkrankenschwestern mit Rat und Tat zur Seite stehen. „Ich lerne viel über die Pflege und den Umgang mit Lisa Marie“, schreibt Marion Pichler Geyr und ist dankbar, diese Chance bekommen zu haben. <BR /><BR /><b>Sprachschwierigkeiten im täglichen Leben</b><BR /><BR />Ihre Erzählungen hat sie in einer E-Mail zusammengefasst. Die Gebärdensprache ist in Südtirol nämlich keine offizielle Sprache – und dementsprechend wenig verbreitet und bekannt. Schon ein einfacher Kinderarztbesuch oder ein Anruf für ein Ansuchen stellt die junge Familie vor große Herausforderungen. Marion und Benjamin verstehen andere nämlich hauptsächlich durch Gesten, Blickkontakt oder Lippenlesen – seit der Maskenpflicht sind sie jedoch kaum noch imstande mit Hörenden zu kommunizieren. Auch zahlreiche Hilfsmittel und Handy-Übersetzer helfen nur bedingt und so muss die junge Familie oft auf den Sozialdienst oder auf sprechende Familienangehörige zurückgreifen, die dann als „Dolmetscher“ fungieren. <BR /><BR /><b>Mit „Dolmetscherin“ in den Kreißsaal</b><BR /><BR />Schwester Beate Pichler etwa, war Marions Sprachrohr im Kreißsaal. Sie durfte neben Papa Benjamin dabei sein, als ihre Nichte um 12.12 Uhr das Licht der Welt erblickte. „Im Nachhinein muss ich sagen, dass es mich wohl nicht gebraucht hätte, die beiden haben das super gemeistert“, ist Beate stolz auf ihre gehörlose Schwester. Denn obschon die werdenden Eltern ohne Geburtsvorbereitungskurs ins Brixner Spital gekommen waren, machten sie intuitiv alles richtig. „Marion wusste genau, wie sich bewegen und verhalten und Benjamin beobachtete sie akribisch und war sehr fürsorglich. Da merkte man, dass bei ihnen einfach andere Sinne stärker ausgeprägt sind. Es war wirklich eine Bilderbuchgeburt, ein Traum“, schildert Beate Pichler, die der werdenden Mutter durch ihre Anwesenheit viel Sicherheit und Halt gab – und auch heute gibt. Täglich sind die beiden über Textnachrichten und Video-Chats in Verbindung. „Nichts sehen trennt von Dingen, doch nichts hören trennt von Menschen“, bringt die ältere Schwester den nicht immer einfachen Alltag einer gehörlosen Person auf den Punkt. „Als hörende Mama schnappt man ständig irgendwelche Ratschläge und Tipps auf, kann sich über hunderttausend Fragen austauschen – doch Marion hat diese zwischenmenschlichen Möglichkeiten kaum.“ <BR /><BR />Umso wichtiger darum ihre Familie und Ehemann Benjamin. Er unterstützt seine Marion so gut er kann und fährt mehrmals in der Woche auf Besuch nach Bozen – in die Stadt, in der sich die beiden vor über 25 Jahren aufgrund ihrer Beeinträchtigung kennengelernt hatten.<BR /><BR /><b>Vom Kindergarten vor den Traualtar</b><BR /><BR />Die Überetscherin und der Wipptaler besuchten gemeinsam einen Kindergarten, der unter anderem auf gehörlose Kinder spezialisiert war. In der Gruppe fühlten sie sich erstmals wirklich verstanden, waren sie doch umgeben von Menschen, denen es ähnlich erging wie ihnen. „Wir beide hatten nämlich keinen Gehörlosen in unserem Familienumfeld“, erinnert sich Marion. Doch als die Kaltererin eingeschult wurde, brach der Kontakt ab. Neun Jahre lang – bis die beiden im Jugendalter neuerlich <U></U> in einer Gehörlosen-Wohngemeinschaft in Bozen aufeinander trafen. Anfangs hatten sie Probleme, einander zu verstehen. Benjamin war besser in der Lautsprache und im Lippenlesen, sie in der Gebärdensprache. Immer mehr stellten sie sich jedoch aufeinander ein, halfen sich gegenseitig und irgendwann brauchte es keine großen Worte mehr, um zu verstehen, wie gern sie sich mochten. 2018 traten sie schließlich in Kaltern vor den Traualtar. <BR /><BR /><b>„Neue Chance“ mit einem hörenden Kind</b><BR /><BR />Seitdem ist ein Leben ohne einander nicht mehr vorstellbar – und ohne Töchterchen Lisa Marie schon gar nicht. Das kleine Mädchen ist nämlich nicht nur ein Wunschkind und wahrer Sonnenschein – es ist anders als seine Eltern hörend. „Mir ist bereits in der 22. Schwangerschaftswoche aufgefallen, dass sie sich bei Musik, lauteren Geräuschen und Gesprächen im Bauch stärker bewegte. Das war ein sehr schönes Gefühl für mich.“ <BR /><BR />Heute beschreibt Marion ihr Mädchen als sehr brav und ruhig. Und wenn es doch mal murmelt oder weint, vibriert Mamas Babyrufsender, den sie immer nah am Körper trägt. Eine enorme Hilfe. „In der ersten Nacht funktionierte das Gerät nicht. Ich habe kein Auge zugemacht“, gibt sie zu. Doch mittlerweile kommt Marion gut zurecht und freut sich bei täglichen Spaziergängen, ihrer Tochter die Welt mit Gesten zu erklären – oder am Wochenende die Herkunftsfamilie in Kaltern zu besuchen. <BR /><BR />„Lisa Marie wird zweisprachig aufwachsen. Wir sind darum sehr bemüht, dass sie die gesprochene Sprache hört. Schon in der Schwangerschaft ließen wir Hör-CDs und Musik laufen. Heute machen wir tägliche Video-Chats mit Familienangehörigen, damit sie deren Stimme wahrnehmen kann und auch hier im Heim hört sie Menschen reden. Uns ist bewusst, dass dies für ihre Sprachentwicklung sehr wichtig ist“, schildern die Eltern und sind überzeugt: Ihre Tochter wird ihnen die Welt der Hörenden noch einmal neu zeigen. Dabei soll sie aber keinesfalls die Verantwortung übernehmen müssen, immer und überall als Dolmetscherin zu fungieren. Nein. Die beiden Gehörlosen wünschen sich für ihre Tochter eine normale Kindheit. Um mit Sprache in Kontakt zu kommen und das Sprechen zu entwickeln, soll sie darum alsbald für wenige Stunden eine Kindertagesstätte besuchen, steckt Marion die Ziele für die Zukunft ab. <BR /><BR />Fürs Erste aber freut sich die 36-Jährige auf März. Lässt es die Pandemie nämlich zu, werden Mutter und Tochter wieder nach Mareit zurückkehren. Spätestens dann möchte die kleine Familie das nachholen, was ihr Covid-bedingt bisher verweigert blieb – unter anderem den Valentinstag.