Psychische Störungen und Suchterkrankungen sind oft das Resultat jahrelangen sexuellen Missbrauchs innerhalb der eigenen Familie, erklärt der der Psychologe und Psychotherapeut im Interview. Jedes fünfte Kind in Europa wird Opfer sexueller Gewalt. Fronthaler vermutet eine hohe Dunkelziffer, die durch Corona weiter gestiegen sein könnte.<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><b>Inzest ist eine häufige Form sexuellen Missbrauchs. Warum aber kommen die meisten Fälle sehr spät oder erst gar nicht ans Licht?</b><BR />Martin Fronthaler: Das ist eines der grausamen Phänomene dieser Misshandlungen: Sie sind sehr schwer zu erkennen und werden versucht zu verheimlichen. Oft werden Übergriffe erst im Rahmen von psychotherapeutischen Behandlungen thematisiert. Die meisten meiner Patienten sind bereits erwachsen und berichten erst dann von ihren traumatischen Kindheitserfahrungen, wenn sie sich halbwegs in Sicherheit und in einem geschützten Rahmen wissen. Offiziell sind nicht auffallend viele Übergriffe in den Familien gemeldet, aber das heißt nicht, dass diese nicht passieren. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Gerade in Pandemiezeiten sind Misshandlungen in der eigenen Familie noch einfacher zu kaschieren, weil es kein soziales Netz gibt, das eine kontrollierende, beschützende und für den Täter abschreckende Funktion hat. Schulen, der Freundeskreis oder beispielsweise Vereine haben oft die Funktion, den Kindern Rückhalt zu geben und zu vermitteln, dass man „Nein“ sagen und darüber reden darf. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-49016379_quote" /><BR /><BR /><BR /><BR /><b>Wer ist besonders betroffen?</b><BR />Fronthaler: Sexueller Missbrauch findet meist im engen Familiensystem statt. Ich schätze, dass etwa 40 Prozent der Fälle von engen Familienmitgliedern, 30 Prozent von engeren Vertrauten der Familie und nur ein kleiner Teil von externen Personen ausgeht. Die meisten Täter sind männlich, etwa ein Drittel aller sexuellen Missbräuche wird von kindlichen oder jugendlichen Tätern verübt. Aber auch Frauen kommen als Täterinnen infrage bzw. werden manchmal zu Mittäterinnen, weil sie die Geschehnisse ignorieren, zulassen oder nicht einschreiten. Täter und Täterinnen sexuellen Missbrauchs können aus allen sozialen Schichten stammen. Die Mehrheit der Opfer sind Mädchen, von denen jene mit einer körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigung besonders stark betroffen sind. <BR /><BR /><BR /><b>Ab wann würden Sie von sexuellem Missbrauch sprechen?</b><BR />Fronthaler: Unter sexuellem Missbrauch von Kindern versteht man jegliche willentliche sexuelle Handlung mit oder vor Kindern. Ein zentrales Kriterium ist für mich der Altersunterschied und das daraus resultierende Machtgefälle. Bei „Doktorspielen“ unter gleichaltrigen Kindern geht es meist um Neugierde und darum, sich kennenzulernen. Aber in dem Moment wo sich etwas in einem manipulativen Zwangskontext abspielt, in dem Kinder involviert sind und Gewalt erfahren oder zu etwas gedrängt werden, dann kann man sicher von sexuellem Missbrauch sprechen. <BR /><BR /><BR /><b>Welche sind aus Ihrer Sicht die häufigsten Formen?</b><BR />Fronthaler: Unter sexuelle Gewalt fallen nicht nur sexuelle Handlung im engeren Sinn, sondern auch alle Handlungen zwischen Erwachsenen oder wesentlich älteren Jugendlichen und Kindern, die mit der Absicht ausgeführt werden, sich sexuell zu stimulieren. So ist zum Beispiel auch das gemeinsame Ansehen von pornografischem Material ein schwerer sexueller Übergriff – oder das Belästigen durch obszöne Redensarten.<BR /><BR /><BR /><b>Welche Motive haben die Täter?</b><BR />Fronthaler: Es geht nicht nur um die sexuelle Befriedigung, sondern auch um Manipulation und Machtausübung. Patienten von mir erleben oft eine regelrechte Gehirnwäsche, die sie hat glauben lassen, dass das alles normal sei, dass sie selbst schuld seien oder dass sie sich das sogar verdient hätten. <BR /><BR /><BR /><BR /><b>Wie sieht es mit den Folgen aus: Führt jede Misshandlung zu einem Trauma?</b><BR />Fronthaler: Nein, aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch. Trauma-Folgestörungen sind umso schwerer, je intensiver der Missbrauch war, je häufiger er geschehen ist, je länger der Tatzeitraum war, je vertrauter der Täter dem Kind ist und vor allem je länger das Kind mit der gemachten Erfahrung allein und ohne Hilfe bleibt. Erschwerend wirkt es sich aus, wenn dem Kind nicht geglaubt wird oder gar eigene Schuld vermittelt wird.<BR /><BR /><embed id="dtext86-49017333_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Die häufigsten Trauma-Folgestörungen sind …</b><BR />Fronthaler: ...posttraumatische Belastungsstörungen, Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen, Abhängigkeiten, Persönlichkeitsstörungen. Jedes Kind reagiert unterschiedlich auf die massive Belastung. Manchmal werden Opfer auch selbst zu Tätern. <BR /><BR /><BR /><b>Welche psychologischen Erklärungen gibt es für Inzest und dessen Verbot?</b><BR />Fronthaler: Eine allgemeine Erklärung gibt es nicht, ebenso wenig ein klassisches Täterprofil, dafür aber mehrere Theorien. Die Grundhypothese lautet: Je schwächer und unsicherer eine Person ist, desto eher sucht sie Situationen, in denen sie überlegen sein, Kontrolle und Macht ausspielen kann. Gegenüber Gleichaltrigen oder Älteren kann sie sich oft nicht durchsetzen, fühlt sich deswegen minderwertig. So wird ein gefügigerer Mensch – meist ein Kind – gesucht, bei dem dann die eigenen Bedürfnisse, Frustrationen und Aggressionen ausgelebt werden können. Auch für das Inzestverbot gibt es diverse Theorien. Die geläufigste davon sieht dessen Ursache im erhöhten Risiko der Weitergabe von Erbkrankheiten. <BR /><BR /><BR /><b>Die beste Prävention gegen Missbrauch heißt …</b><BR />Fronthaler: … stabile Beziehungen und Aufklärung! Dem Kind sollte vermittelt werden, dass der Körper ihm selbst gehört und auch nicht von einem Familienmitglied gegen den eigenen Willen gebraucht werden darf. Oft wird missbrauchten Kindern nämlich vermittelt, sie seien Eigentum von Autoritätspersonen, wie dem Vater. Ein Kind muss daher wissen, dass es allein selbst über den eigenen Körper zu bestimmen hat. Es muss wissen, dass es einen physischen oder seelischen Schmerz nicht einfach aushalten muss, sondern sich dagegen wehren darf. Und ganz wichtig: Ein Kind muss wissen, dass man darüber sprechen darf!