„So etwas zeichnet dich das ganze Leben, man kommt davon nie mehr los, auch wenn die Erinnerungen und Bilder mit der Zeit verblassen“, erzählt der Tierarzt aus Meran.<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><b>Herr Russo, welche Bilder kommen in Ihnen hoch, wenn Sie an den 4. August 1974 denken?</b><BR />Mauro Russo: Ich habe lange Zeit nicht über das, was damals geschehen ist, sprechen können. Die ersten Wochen im Krankenhaus nahm ich gar nicht wahr, dass meine Eltern und mein Bruder tot waren. Meine ältere Schwester lag schwer verwundet im selben Krankenhaus in Bologna wie ich, später wurden wir sogar zusammengelegt. Sie wurde meine wichtigste Bezugsperson und hat mich ein Leben lang begleitet. Ihr Tod 2007 hat mich verständlicherweise sehr betroffen gemacht. Lange Zeit habe ich mich geschämt, offen über alles zu sprechen. Ich fühlte mich, wie wenn ein Makel auf mir lag. Erst viel später habe ich begonnen, das Geschehene aufzuarbeiten. Aber so etwas zeichnet dich das ganze Leben, man kommt davon nie mehr los, auch wenn die Erinnerungen und Bilder mit der Zeit verblassen. 20 Jahre lang habe ich auch keinen Zug mehr bestiegen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="675119_image" /></div> <BR /><b>Sie und Ihre Schwester haben Eltern und Bruder bei dem Attentat verloren. Wie geht man mit so einer Tragödie um? Wie konnten Sie weiterleben?</b><BR /> Russo: Mein Vater war Eisenbahner und Einzelkind. Wir hatten somit kein großes Netz an Verwandten, und so war es meine ältere Schwester Marisa, die mich großgezogen, sich um mich gekümmert hat, auch wenn sie damals noch gar nicht volljährig war (1975 wurde die Volljährigkeit von 21 auf 18 gesenkt; Anm. d. Red.). Wir wohnten zusammen in Meran, ich besuchte das Wissenschaftliche Lyzeum und studierte später Veterinärmedizin in Bologna. Marisa arbeitete als Grundschullehrerin. Damals gab es keine Notfallseelsorge, keine psychologische Betreuung oder einen Sozialdienst, der sich um uns kümmerte. Wir waren auf uns gestellt, aber froh, nicht einer Adoptivfamilie zugewiesen zu werden. <BR /><BR /><b>Warum wurden die Täter und Drahtzieher des Anschlags nie zur Verantwortung gezogen?</b><BR />Russo: Es hat mehrere Prozesse gegeben, herausgekommen ist bis heute nichts. Ich wurde auch mehrfach als Zeuge geladen, der bzw. die Täter und Drahtzieher wurden aber niemals dingfest gemacht, so wie auch beim Anschlag auf dem Bahnhof von Bologna nichts herausgekommen ist. Die sogenannten „anni di piombo“ sind bis heute unter Verschluss gehalten. Wieso der Staat das tut, darüber kann man nur spekulieren.<BR /><BR /><b>Hat die Polizei zur Aufklärung alles unternommen?</b><BR />Russo: Das kann ich nicht beurteilen. Allerdings wäre es an der Zeit, dieses Kapitel der Geschichte der Republik aufzuarbeiten. Dazu müssten aber die Archive geöffnet und die Quellen zugänglich gemacht werden. Wir Leidtragenden der Attentate dieser Zeit wünschen uns das, aber auch die Öffentlichkeit hat ein Recht zu erfahren, was damals in Italien wirklich geschehen ist. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="675122_image" /></div> <b>Haben Sie selbst auch Nachforschungen unternommen?</b><BR /> Russo: Wir sind in Florenz in den 5. Waggon eingestiegen, der leer war. In Erinnerung geblieben ist mir, dass ich einen Mann gesehen habe, der damals eilig aus dem Waggon ausgestiegen ist. Eine Personenbeschreibung konnte ich aber nicht liefern, dazu ging alles zu schnell. Die Bombe war wahrscheinlich neben unserem Abteil auf der Toilette versteckt. Es ist ein großes Verdienst des Zugführers, dass es ihm gelungen ist, den Zug aus dem Tunnel zu fahren, nachdem die Bombe hochgegangen ist. Er hat Großartiges geleistet und so viele Menschenleben gerettet. Ich hatte Verbrennungen am ganzen Körper erlitten, noch schlimmer hat es aber meine Schwester getroffen. Sie überlebte nur, weil sie der Kontrolleur Silver Sirotti aus dem brennenden Zug herausgezogen hat, wie viele andere Passagiere. Er ist ein Held, erlag später dann seinen Verletzungen. <BR /><BR /><b>Im Zug hätte damals auch Aldo Moro sein sollen. Galt ihm der Anschlag?</b><BR /> Russo: Das glaube ich nicht, denn öffentliche Persönlichkeiten standen mehr im Visier der Linksterroristen in dieser Zeit. Die Rechtsradikalen hingegen töteten wahllos, auch Kinder; mit ihren Bomben wollten sie Chaos stiften, die staatliche Ordnung zerstören. Ich finde es pervers, wenn man mit solchen Methoden politische Ziele erreichen will.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="675125_image" /></div> <BR /><b>Wie würden Sie Genugtuung finden für das, was man Ihnen und Ihrer Schwester angetan hat?</b><BR /> Russo: Das Attentat von Bologna 1980 ist bis heute der blutigste Terroranschlag in Italien seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Fußboden und ein tiefer Riss in der Wand wurden nach dem Wiederaufbau als Mahnmal an den Anschlag unverändert beibehalten. Außerdem ist die Bahnhofsuhr seit damals auf 10.25 Uhr gestellt, der genauen Uhrzeit der Explosion. Eine solche Erinnerungskultur würde ich mir auch für den Anschlag auf den „Italicus“ wünschen. Immer wieder werde ich auch als Zeitzeuge an Schulen und zu Veranstaltungen in ganz Italien eingeladen. In Südtirol hat man mich aber noch nie danach gefragt. Ich finde es wichtig, auch die jüngere Geschichte den Schülern näher zu bringen und damit den vielen Opfern des Terrorismus der vergangenen Jahrzehnte eine Stimme zu geben. Demnächst kommt ein Dokumentarfilm ins Kino mit dem Titel „Italicus, la verità negata“. Ich würde mir wünschen, wenn viele Menschen sich diesen Film ansehen.<BR /><BR /><BR />HINTERGRUND<BR /><BR /> In der Nacht vom 3. auf den 4. August 1974 kehrte die Familie Russo von einer Florenzreise nach Meran zurück. „Wir bestiegen am Hauptbahnhof den 5. Waggon des Schnellzugs Nummer 1468, dem ,Italicus„, der Nachtzug von Rom nach München“, erinnert sich Mauro Russo. Um 1.23 Uhr explodierte im Apennintunnel kurz vor dem Bahnhof von San Benedetto Val di Sambro zwischen Florenz und Bologna die Bombe. Mauros Eltern und sein 14-jähriger Bruder starben, ebenso 9 weitere Passagiere. Mauro, damals 13, und seine Schwester Marisa, 19, wurden schwer verletzt. Unter den Verletzten war auch der 20-jährige Robert Darman aus Bozen.<BR /><BR />1974 ist ein entscheidendes Jahr in der jüngeren Geschichte Italiens. Es ist eine Übergangszeit, die Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland fallen. Es ist das Jahr des Referendums über die Scheidung. Christdemokraten und Kommunisten nähern sich an, beginnen miteinander zu sprechen. Historiker sprechen vom sogenannten „historischen Kompromiss“. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="675128_image" /></div> <BR />Nicht allen passt diese Versöhnung zwischen den 2 größten Parteien Italiens, im Gegenteil. Den italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro kostet sie 1978 das Leben. Der Linksterrorismus zeigt, wozu er fähig ist. Aber auch der erstarkte neofaschistische Block scheut vor keiner Grausamkeit zurück. Geheimdienste, Militär und Kreise aus der Politik sollen im Hintergrund ihre Fäden ziehen.<BR /><BR />Die dubiosen Verbindungen zwischen Teilen des italienischen Sicherheitsapparats und rechtsextremen Terrorgruppen werfen ihre Schatten bis in die Gegenwart. Die „anni di piombo“, die „bleiernen Jahre“, als der links- und der rechtsextremistische Terror die Grundfesten der italienischen Demokratie erschütterte, sind noch immer nicht aufgearbeitet. Man glaubt zwar zu wissen, dass der Anschlag auf den „Italicus“ im Auftrag der „Fronte Nazionale Rivoluzionario“ und des „Ordine Nuovo“, zweier rechtsextremer Organisationen erfolgt ist, der bzw. die Täter und die eigentlichen Drahtzieher werden aber nie gefasst. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="675131_image" /></div> <BR />6 Jahre später: Am 2. August 1980 um 10.25 Uhr geht am Bahnhof von Bologna in der Wartehalle eine Bombe hoch. In einem Koffer ist sie dort mit einem Zeitzünder abgestellt, 23 Kilogramm TNT und anderes hochexplosives Material. Bilanz: 85 Tote, 200 Verletzte. In 3 getrennten Gerichtsverfahren wird die Täterschaft der neofaschistischen „Nuclei Armati Rivoluzionari“ (NAR), der „Bewaffneten Revolutionären Zellen“ für den Anschlag in Bologna nachgewiesen. <BR /><BR />Auch die Verwicklung italienischer Geheimdienstmitarbeiter und des Chefs der Geheimloge „Propaganda Due“ (P2), Licio Gelli (1919 bis 2015), in das Massaker von Bologna ist erwiesen. Offenbar versorgten die mächtigen, in Politik und Wirtschaft gut vernetzten Hintermänner die jungen Rechtsterroristen mit viel Geld.<BR /><BR />Eines haben „Italicus“ und Bologna gemeinsam: Jedes Mal haben die Geheimdienste die Ermittlungen torpediert und damit verhindert, dass die Schuldigen gefunden werden konnten. Die unaufgeklärten Verbrechen sind für Italien zum Trauma geworden. Möglicherweise werden die Anschläge auf den „Italicus“, von Bologna und Ustica genauso unbestraft bleiben wie das Attentat vom Dezember 1969 auf der Piazza Fontana in Mailand.<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />