<b>STOL: Herr Professor Mangott, 9 Monate sind seit Kriegsbeginn vergangen, ein Ende scheint derzeit nicht in Sicht. Wie wird sich dieser Krieg Ihrer Meinung nach in den kommenden Monaten entwickeln?</b><BR />Professor Gerhard Mangott: Die Ukraine war mit der Eroberung des Westufers der Region Cherson schon das dritte Mal erfolgreich gegen die russische Armee – nach der Vertreibung der Russen aus Kiew und der Region Kharkiv im Osten. Aber jetzt in der Schlammperiode, mit heftigem Regen und aufgeweichten Böden, wird erwartet, dass sich die Offensiv-Aktionen verringern werden; an der gesamten Frontlinie von etwas mehr als 1000 Kilometern. Die russische Seite möchte sich über den Winter eingraben und versuchen, die Stellung zu halten und in Defensivposition zu bleiben. Die ukrainische Seite sagt, dass sie wieder Angriffe starten werde, sobald die Böden gefroren sind. Aber die meisten Militärexperten gehen nicht davon aus, dass es der Ukraine leichtfallen wird, die noch verbleibenden 20 Prozent des von Russland besetzten Territoriums rasch wieder zurückzuerobern. Daher gibt es im Westen auch eine Debatte darüber, was denn nun das Vernünftigste sei.<BR /><BR /><embed id="dtext86-57138333_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>STOL: Nämlich?</b><BR />Mangott: In den USA wird diese Debatte ganz offen ausgetragen. US-Generalstabschef Mark Milley sagt, dass dieser Winter eine Periode der Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sein sollte, während die US-Regierung selbst betont, dass nur die Ukraine entscheidet, wann sie, wie sie und worüber sie zu verhandeln bereit sei. Westeuropäische Länder wie Deutschland oder Frankreich drängen auf Verhandlungen, weil sie eine Eskalation des Krieges befürchten. Dann gibt es wiederum osteuropäische Staaten und die Briten, die sagen, der Kampf ist fortzuführen bis zum erklärten Kriegsziel der Ukraine, nämlich alle russischen Truppen aus dem ukrainischen Territorium zu vertreiben. <BR /><BR /><b>STOL: Und was ist Ihre Meinung: Sofortige Verhandlungen oder den Krieg fortführen, bis Russland besiegt ist?</b><BR />Mangott: Ich sehe für Friedensverhandlungen derzeit keine Möglichkeit, denn beide Seiten sind nach wie vor davon überzeugt, dass sie auf dem Schlachtfeld Erfolge erringen können, insbesondere die Ukraine. Zudem sind die Verhandlungspositionen zwischen den beiden Ländern derzeit so weit entfernt, dass das weder für Russland noch für die Ukraine in Frage kommt. Ich bin pessimistisch, was Friedensverhandlungen anbelangt. <BR /><BR /><embed id="dtext86-57138335_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>STOL: Sie haben es davor angesprochen: Derzeit gibt es in der Ukraine eine Schlammperiode, der kalte Winter steht unmittelbar bevor, zudem sind einige Regionen ohne Strom und Heizung: Steht den Menschen in der Ukraine eine noch größere humanitäre Katastrophe bevor, als ohnehin schon?</b><BR />Mangott: Das ist leider ein sehr realistisches Szenario. Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, meint, dass der bevorstehende Winter der härteste Winter seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sein werde. Die russische Armee hat zahlreiche Elektrizitäts-, Wasser-, Gas- und Fernwärmewerke zerstört und daher ist in der Ukraine zu erwarten, dass sehr viele Haushalte im Winter ohne Strom, ohne Heizung und ohne warmes Wasser bleiben werden. Bürgermeister Klitschko sagt, dass, – wenn Russland weitere Angriffe startet – es sein könnte, dass eine Stadt wie Kiew teilweise evakuiert werden muss, um die Bevölkerung ausreichend versorgen zu können. Russland begeht mit diesen Angriffen auf zivile Infrastrukturen zweifellos Kriegsverbrechen. <BR /><BR /><b>STOL: Vor einigen Tagen hat die Welt den Atem angehalten, als Raketen über die ukrainische Grenze hinaus auf polnischem Staatsgebiet eingeschlagen sind und 2 Menschen getötet haben. Weiß man mittlerweile, ob es sich um russische oder ukrainische Raketen gehandelt hat?</b><BR />Mangott: Es wurde eine internationale Untersuchungskommission eingesetzt, die das klären soll, aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass es sich um ukrainische Abfangraketen des Typs S300 handelt, die beim Versuch, russische Raketen abzuwehren auf polnischem Gebiet eingeschlagen sind und 2 Menschen getötet haben. <BR /><BR /><embed id="dtext86-57138336_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>STOL: Wie groß ist Ihre Befürchtung, dass sich dieser Krieg angesichts solcher Geschehnisse auch geografisch ausweiten könnte, also über die Ukraine hinaus?</b><BR />Mangott: Das Risiko besteht, das hat man durch diesen Zwischenfall in Polen gesehen. Man nennt das eine horizontale Eskalation, dass sich der Krieg also auf andere Länder ausweitet. Ich glaube aber nicht, dass Russland die Absicht hat, das zu tun, da es militärisch nicht in der Lage wäre, es mit der NATO aufzunehmen. Das würde sehr rasch nuklear eskalieren. Es besteht aber auch die Gefahr einer vertikalen Eskalation.<BR /><BR /><b>STOL: Die da wäre?</b><BR />Mangott: Dass Russland taktische Nuklearwaffen einsetzt. Und gerade weil es diese Gefahr gibt und diese Gefahr sehr hoch ist, sollte sich die Ukraine mit weniger als dem Maximalziel zufriedengeben und sich auf eine Waffenstillstands-Vereinbarung mit den Russen einigen. Ich bin aber realistisch und befürchte, dass es eine solche Vereinbarung auf absehbare Zeit nicht geben wird. <BR /><BR /><embed id="dtext86-57138337_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Wie steht nach 9 Monaten Krieg eigentlich die russische Bevölkerung zu dieser „Spezialoperation“, wie es die russische Regierung nennt?</b><BR />Mangott: Seit Wladimir Putin am 21. September die Teilmobilmachung ausgerufen hat, hat sich die Stimmung in der russischen Bevölkerung verändert. Zuvor hatte man in Städten wie Moskau oder St. Petersburg von diesem Krieg kaum etwas mitbekommen. Seit der Mobilmachung ist der Krieg aber in vielen russischen Haushalten angekommen, da Väter, Ehemänner und Söhne an die Front mussten und Familien auseinandergerissen werden. Das hat zu einem großen Unmut und zu einer großen Angst in der Bevölkerung geführt. Gleichzeitig ist der Nimbus von Putin, dass alles, was er anfasst, ein Erfolg wird, deutlich angekratzt. Nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der Führungselite des Landes.<BR /><BR /><b>STOL: Könnte das zu einer Kurzschluss-Reaktion von Putin führen?</b><BR />Mangott: Das könnte passieren, vor allem dann, wenn Russland vor einer desaströsen Niederlage steht. An diesem Punkt sind wir noch lange nicht, aber er ist nicht auszuschließen, etwa wenn die Krim gefährdet wäre. Putin weiß, dass in einem solchen Fall seine Position gefährdet wäre, daher wird er alles tun, um eine solche Niederlage zu vermeiden. Daher befürchte ich, dass eine erhöhte Wahrscheinlichkeit besteht, dass es zum Einsatz von taktischen Nuklearwaffen kommt, um die Ukraine zu zwingen, sich auf Verhandlungen einzulassen und ihre Offensive zu stoppen. <BR />