„Der Faktor Immunisierung reicht noch nicht aus, um das Problem dadurch im Griff zu haben, aber er trägt dazu bei, dass wir viel früher den Kehrpunkt erreichen“, sagt der renommierte Wissenschaftler, der kürzlich zum Österreicher des Jahres gekürt wurde. <BR /><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="704666_image" /></div> <BR /><b>Herr Dr. Popper, die Corona-Zahlen stiegen zuletzt wieder stark an, sowohl in Österreich als auch in Südtirol. Hat man die Situation in diesem Jahr lange Zeit falsch eingeschätzt oder ignoriert?</b><BR />Niki Popper: Hierbei handelt es sich um ein vielschichtiges Problem. Man kann es so zusammenfassen: Fast alle Experten haben darauf hingewiesen. Im Frühjahr wurde lange Zeit unterschätzt, dass man vernünftig und breitflächig impfen muss. Deshalb ist die Impfquote im Vergleich zu anderen Ländern nun niedriger. Wer Schuld daran hat, ist die große Frage. Ich würde sagen, es wurde auf jeden Fall darauf hingewiesen, aber es wurden Fehler gemacht. Man hätte mehr machen können. Ich denke dabei etwa an gezieltere und bessere Aufklärungsmaßnahmen. Die Diskussion rund um die Impfpflicht hat zudem viele Menschen zusätzlich verunsichert. Wichtig wäre es, dass die Debatte näher an die Menschen rückt. Die Politik sagt hier gerne, wir machen eh alles, was sollen wir denn noch tun? Diese Aussage muss ich mal so dahingestellt lassen. Das Grundproblem ist also die Impf-Durchimmunisierung.<BR /><BR /><b>Neben diesem Grundproblem gibt es aber weitere Faktoren…</b><BR />Popper: Ja, sicher. So wurden etwa manche Entscheidungen zu spät getroffen, dabei denke ich etwa an die Formulierung der Impfstrategie. Auch wurde nicht klar genug kommuniziert, dass die Impfung nicht zu 100 Prozent wirkt. So ist bei Teilen der Bevölkerung der Eindruck entstanden, dass die Pandemie mit der Impfung bereits überstanden sei. Doch es gehören auch noch andere Aspekte dazu. Was die Maßnahmen betrifft, stellt sich immer wieder die Frage, ob diese auch klar genug sind. Ich würde hier aktuell sagen: Nein! Es ist nicht ganz transparent, wo jetzt welche Regeln gelten. In Österreich etwa haben wir gerade Regeln, die von der Auslastung der Intensivbetten ausgehen. Das bewerte ich grundsätzlich gut, aber rein epidemiologisch gesehen ist das schon zu spät. Auf der anderen Seite hätte ich es aber auch für unrealistische erachtet, dass schon im September härtere Maßnahmen hätten erlassen werden sollen. <BR /><BR /><embed id="dtext86-51425704_quote" /><BR /><BR /><b>Die Zahlen haben sich im September und Oktober aber gewissermaßen eingependelt oder?</b><BR />Popper: Unsere Modelle haben eigentlich vorausgesagt, dass es bereits Ende September oder Anfang Oktober zu einem Anstieg kommen würde. Doch dieser Anstieg ist etwas später eingetreten, wie wir nun gesehen haben. Dennoch haben mich schon Anfang Oktober viele Leute angerufen und gemeint, na was ist los? Jetzt ist es schon wieder vorbei, was habt ihr denn für Berechnungen? Da habe ich immer entgegnet – nein, Freunde, das ist jetzt einfach eine Verzögerung, ein zeitweiliges Plateau und in drei Wochen steigen die Zahlen wieder. So ist es jetzt auch wieder gekommen. Auch in dieser Debatte ist aber die leider weit verbreitete Polarisierung innerhalb der Gesellschaft zu spüren. Bei so einer Polarisierung kannst du keine Präventionsmaßnahmen setzen.<BR /><BR /><b>Was dürfte in den kommenden Wochen und Monaten auf uns zukommen?</b><BR />Popper: Ich glaube, dass die Intensivstationen nicht an ihr Limit kommen werden, weil falls es in diese Richtung geht, frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden. Was von der Dynamik her geschehen wird, kann ich sagen, nur nicht genau wann und wie hoch. Es wird schlicht und einfach so sein, dass wir jetzt wieder einen Anstieg haben werden, bis er einen bestimmten Gipfel erreicht. Dieser wird aufgrund der Impfungen dieses Mal mit gelinderen Maßnahmen zu erreichen sein. Wann der Höhepunkt erreicht wird und wie hoch er genau ist, ist nun die große Frage, vor der wir stehen. Hier befinden wir uns in einer Feedbackschleife, von der es abhängt. Es gibt mehrere Möglichkeiten.<BR /><BR /><b>Welche wären das?</b><BR />Popper: Ich kann hier zwei Szenarien zeichnen. Angenommen wir steigen recht rasant und die Auslastung der Intensivbetten wird sehr stark, dann wird es bald härtere Maßnahmen geben. Dadurch werden die Infektionszahlen dann wieder nach unten gedrückt, so wie wir es schon kennen. Wenn es aber langsamer geht und auch die Auslastung der Krankenhäuser nicht zu schnell ansteigt, dann wird irgendwann im November oder Anfang Dezember der Gipfel erreicht sein. Auch hier werden bestimmte Maßnahmen greifen, aber aufgrund der hohen Immunisierungsquote durch Impfungen usw. werden diese milder ausfallen. Der Faktor der Immunisierung ist der große Unterschied zum vergangenen Jahr. Er reicht noch nicht aus, um das Problem dadurch im Griff zu haben, aber er trägt dazu bei, dass wir viel früher den Kehrpunkt erreichen. Ich würde sagen, es ist nicht wahrscheinlich, dass wir einen Lockdown brauchen. <BR /><BR /><embed id="dtext86-51425706_quote" /><BR /><BR /><b>Zudem scheinen sich in diesem Jahr auch grippale Infekte und Erkältungen im Gegensatz zum Vorjahr schneller zu verbreiten. Warum gibt es in diesem Herbst/Winter diese Dynamik?</b><BR />Popper: Das wird heuer sicher eine große Herausforderung werden. Wenn wir im Dezember oder Jänner eine Grippesaison haben – die wird dieses Jahr aller Voraussicht nach sehr viel höher sein – dann haben wir eine zusätzliche Belastung für die Intensivstationen. Durch die starken Hygienemaßnahmen blieb die Grippesaison im vorigen Jahr aus. Jetzt kann man nur hoffen, dass die Covid-Welle bis dahin abgeschwächt ist. Was diese Dynamik aber für die Menschen, die auf Intensivstationen arbeiten, so oder so bedeutet, ist wohl jedem schmerzlich bewusst. Es ist sehr gut möglich, dass sie direkt von einer Covid-Welle in eine Grippe-Welle kommen. <BR /><BR /><b>Immer wieder ist davon zu hören, dass auch geimpfte Personen positiv getestet werden. Lässt der Impfschutz bei Teilen der Bevölkerung schon nach?</b><BR />Popper: Bei Infektionen sehen wir in der Tat, dass laut einer neuen Studie nach etwa 20 Wochen der Impfschutz gegen eine Infektion schon reduziert ist. Bei AstraZeneca mehr als bei Biontech/Pfizer. Es ist aber immer noch ein guter Schutz vorhanden. Aber bei erhöhter Verbreitung stecken sich somit auch wieder einige Geimpfte an. Auch das ist nicht überraschend, deshalb wurde ja eine weitere Auffrischungsimpfung nach einer bestimmten Zeit empfohlen. Das ist klarerweise unerfreulich und eine unangenehme Situation. Vor allem weil aus der Politik schon mehrmals quasi zu hören war, dass sich die Pandemie mit der Impfung erledigt hat. Nun sagen die Impfgegner – seht ihr, die Impfung ist wirkungslos. Beide Aussagen sind einfach Blödsinn, aber was soll man machen?!<BR /><BR /><b>Sie wurden vor kurzem als Österreicher des Jahres ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?</b><BR />Popper: Das ist natürlich eine große Ehre. Vor allem ist es aber ein Ansporn dafür, dass man mit vernünftigen Modellen versucht, komplexe Dynamiken, etwa jetzt in der Corona-Krise, bei der Mobilität oder bei der Klimadebatte zu verstehen. Das freut mich, dass das gewürdigt wurde. In Wahrheit ist das eine Auszeichnung für meine ganze Gruppe und die ganze Disziplin. Das haben wir, glaube ich, dringen nötig, dass wir verstehen müssen, wie kompliziert unsere Welt eigentlich ist. Wenn man dazu ein bisschen was beitragen kann, dann ist das ein großer Erfolg. Es bekriegen sich Freunde, Familien und Ehepartner nicht Mal weil sie wirklich unterschiedlicher Meinung sind, sondern weil das System teilweise so kompliziert ist, dass sie keinen Konsens mehr zusammenbringen. Mit unseren Modellen wollen wir auch dabei helfen, dass sich die Menschen besser verstehen. Die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft ist mindestens so schlimm wie die Pandemie selbst.<BR /><BR />