Und er weiß: „Bis zum fünften Lebensjahr sind Kinder der eigenen Familie ,ausgesetzt'“. <BR /><BR /><b>Dr. Pycha, wie kann es dazu kommen, dass man das eigene Kind verhungern lässt?</b><BR />Dr. Roger Pycha: Verhungern lassen ist nicht ein aktives Töten. Dieses passive Töten dauert lange. Dafür muss man sich vom eigenen Kind abgewandt haben, man muss es erstens so behandelt haben, als ob es kein Kind, also weder hilfs- noch schutzbedürftig wäre, und zweitens, als ob es nicht das eigene Kind wäre. Darum ist eine solche Situation besonders paradox. <BR /><BR /><BR /><b>Besonders paradox ist es dann, wenn es Geschwister gibt, die hingegen nicht vernachlässigt wurden...</b><BR />Dr. Pycha: Es gibt wohl drei Erklärungsmöglichkeiten, von denen zwei wahrscheinlich und eine weniger wahrscheinlich ist. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-64895904_quote" /><BR /><b><BR /><BR />Welche ist unwahrscheinlich?</b><BR />Dr. Pycha: Die Vernachlässigungs-Hypothese. Dass es sich um extreme Unachtsamkeit handeln könnte. Es dauert Wochen, bis ein Mensch an Unterernährung stirbt, selbst ein Dreijähriger. Und es kann fast nicht sein, dass die Geschwister gut ernährt sind und nur eines nicht. Darum ist diese Hypothese unwahrscheinlich.<BR /><BR /><BR /><b>Und die anderen?<BR /></b>Dr. Pycha: : Es könnte ein Münchhausen-Syndrom durch Angehörige vorliegen: Als Mutter oder Vater möchte ich die Aufmerksamkeit auf mich lenken und mache dafür mein Kind krank, sogar bis es stirbt. Häufig entdecken die Ärzte gar nicht, dass hinter der Krankheit des Kindes eine Manipulation steckt. <BR /><BR />Aber die wahrscheinlichste Hypothese ist das Vorliegen eines uneinfühlbaren Deliktes. Da steckt eine Logik dahinter, die anderen Menschen nicht zugänglich ist, weil Wahnerlebnisse bestehen. So wie Abraham seinen Sohn aus religiöser Logik opfern wollte, könnte ein dominanter Elternteil den anderen von der Wahnvorstellung überzeugt haben, das Kind opfern zu müssen. Wir sprechen dann von „Folie à deux“ (wörtlich „Wahnsinn zu zweit“, Anm. d. Red.). Die Idee ist, dass man am Kind eine schwere Prüfung vollzieht oder es opfert, damit es einem selbst oder der ganzen Welt besser geht.<BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-64895908_quote" /><BR /><BR /><BR /><b><BR />„Folie à deux“ – ist das vergleichbar mit Massensuiziden, wie man sie aus Fällen betreffend Sekten und sektenähnlichen Gruppen kennt? </b><BR />Dr. Pycha: Ja, das ist vergleichbar: Die Betroffenen, im Falle der „Folie à deux“ sind sie allerdings nur zu zweit, opfern manchmal sich selbst oder das Liebste, um die Gemeinschaft zu retten. Ähnliches kennt man aus der Kulturgeschichte: Die Azteken fürchteten, dass die Sonne nicht mehr aufgehen würde und opferten dem Sonnengott meist Feinde, aber auch Unbescholtene. Die Mayas opferten Pelota-Verlierer. Pelota war eine Art Ballspiel ums Überleben. Wobei nicht klar ist, ob vielleicht sogar die Sieger geopfert wurden, da es auch eine Ehre gewesen sein könnte, für die Gemeinschaft zu sterben. <BR /><BR /><BR /><b>Außerhalb der Familie sollte es aber die ganze Gesellschaft mit Gesetzen geben, die über das Wohl der Kinder wacht...</b><BR />Dr. Pycha: Ab dem fünften Lebensjahr sind Kinder in der Gesellschaft eingeführt und stehen unter Beobachtung und Schutz durch den Staat. Bis zu diesem Zeitpunkt können sie der eigenen Familie „ausgesetzt“ sein. Nachdem es ein paar Wochen dauert, ehe man verhungert, ist der Zeitraum nicht groß genug, dass es etwa den Nachbarn auffallen könnte. Darüber hinaus haben wir die Privatsphäre, die eine Grenze um die Familie zieht, die bei uns nur selten durchbrochen wird. Die Familie ist ein hilfreicher Rückzugsort – sie kann aber auch gefährlich werden und extreme Folgen haben. Warum ereignen sich die meisten Missbrauchsfälle innerhalb der Familie?