Hannelore Winkler ist Referatsleiterin für Psychopädagogische Beratung der Pädagogischen Abteilung des Landes. 14 Mitarbeiter unterstützen mit ihr in den Beratungszentren in Schlanders, Meran, Bozen, Brixen und Bruneck Kindergärten und Schulen, Erziehungsverantwortliche und Schulführungskräfte – meistens, wenn Kinder auffälliges Verhalten an den Tag legen. Aber auch bei schwierigen Dynamiken in Gruppen, bei Ängsten, schulischen Krisen und in Konfliktsituationen stehen sie den Menschen in den Bildungseinrichtungen zur Seite.<BR /><BR /><b>STOL: Hat der Busfahrer richtig reagiert?</b><BR />Hannelore Winkler: Ich denke, er hat einen richtigen Ansatz gehabt. Er hat das Problem wahrgenommen, es beobachtet, er ist im Rahmen seiner Möglichkeiten interveniert. Er hat geschaut, welches Netzwerk er aktivieren kann. Bei Schülern am Nachhauseweg kann man die Schule kontaktieren und deren Verhalten mitteilen. Die Schule wird dann die Eltern involvieren und mit den Schülern reden. Der Busfahrer hatte da ein gutes Gespür.<BR /><BR /><BR /><b>STOL: Es heißt, die Gewalt unter Jugendlichen nimmt zu…Wie ist Ihre Erfahrung?</b><BR />Winkler: Wir führen keine Statistik. Es gibt Gewaltsituationen an Schulen, das wissen wir alle. Ängste, psychische Gesundheit werden immer mehr ein Thema. Das steht auch in Zusammenhang mit Gewalt. Schüler, die Opfer von Mobbing sind, haben ein erhöhtes Risiko, psychisch darunter zu leiden und krank zu werden. Mit Situationen körperlicher Gewalt haben wir in den Beratungsstellen nicht so oft zu tun; eher mit schwierigen Dynamiken im Klassengefüge. Wir stellen fest, dass Schüler häufig unter Druck stehen. Oppositionelles Verhalten, sich ausklinken, Mobbingsituationen: Damit sind wir konfrontiert. <BR /><BR /><b>STOL: Wie oft werden Sie von Schulen durchschnittlich pro Jahr kontaktiert?</b><BR />Winkler: Ständig. Gewaltsituationen in Form von Mobbing, dass Schüler ausgegrenzt werden: Wie viele Fälle es genau sind, erfassen wir nicht. <BR /><BR /><b>STOL: Wenn es zu Gewalt kommt: Welche Strategien haben sich bewährt?</b><BR />Winkler: Sofort intervenieren. Massive Übergriffe müssen gemeldet werden. Wie im Fall des Busfahrers richtig geschehen – er hat signalisiert: Das ist mein Bus. Wir sind eine Gemeinschaft. Es gibt klare Regeln. Ich bin der Verantwortliche, als solcher interveniere ich und sage „Stopp“. Es gilt, das Opfer zu schützen. Schließlich geht es um das Kindeswohl. Der nächste Schritt: Die Täter konfrontieren. Grenzen aufzeigen. Wir sind auf der Interventionsebene tätig, aber arbeiten auch präventiv mit Schulen an Projekten der Gewaltprävention. Wir bieten Sprechstunden für Eltern, Lehrpersonen und Schüler an. Auch schulintern gibt es Unterstützungssysteme. Es gibt Zentren für Information und Beratung an den Schulen, Beratungslehrer, Sozialpädagogen, die Schüler unterstützen.<BR /><BR /><b>STOL: Wird zu oft weggeschaut, wenn es um Konflikte unter Jugendlichen geht?</b><BR />Winkler: Ich beobachte eine starke Verunsicherung der Eltern, ihre Rolle wahrzunehmen.<BR /><BR /><b>STOL: Inwiefern?</b><BR />Winkler: In ihren Erziehungsstilen. Wie kann ich angemessene Grenzen setzen? Wie kann ich gut vorleben, andere zu respektiveren.<BR /><BR /><embed id="dtext86-58960960_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Woher kommt diese Verunsicherung?</b><BR />Winkler: Viele Faktoren spielen eine Rolle. Eltern sind oft überfordert: Sie müssen arbeiten, haben wenig Zeit, stehen stark unter Druck. Sie sind mit vielen Dingen konfrontiert, können wenig präsent sein. Ich möchte Eltern auf keinen Fall etwas unterstellen, aber es fällt als Tendenz auf. Problematisch kann auch sein, wenn Eltern im Umfeld wenig Unterstützung erfahren. In vielen Fällen stehen keine Großeltern zur Verfügung. Man denke nur an Familien, die in einer Mietwohnung in der Stadt leben, wo es nicht laut sein darf… Der Druck, alles richtig machen zu müssen, die Angst, etwas zu versäumen: Da kann es passieren, dass das Gespür verloren geht. Wir müssen uns vor Augen halten: Die größte Prävention sind gesunde und starke Kinder. Das fängt in der Erziehung an. Kinder in ihrer Selbstwirksamkeit unterstützen, sie gut begleiten, gute Beziehungen, Grundvertrauen pflegen.<BR /><BR /><b>STOL: Wie steht es um die Zivilcourage? Auch die spielt in Mobbing- und Gewaltsituationen eine Rolle.</b><BR />Winkler: Der Busfahrer hat Zivilcourage gezeigt. Die habe ich nur, wenn ich ein gestärkter Mensch bin und Verantwortung für mich und andere übernehmen kann. Das lernt man in der frühen Kindheit: Wie gehe ich mit Konfliktsituationen um? Schaue ich weg oder kann ich auch in kritischen Situationen eine Lösung herbeiführen? Bei Mobbing in der Gruppe gibt es viele Mitläufer und Zuseher, die nicht eingreifen. Wenn ich diese Zuseher stärke, können sie entscheidend auf einen Mobbingprozess eingreifen, damit er nicht eskaliert. Sie können das Opfer unterstützen. Wenn Umstehende nicht wegschauen: Das ist eine große Ressource.<BR /><BR /><b>STOL: Gut gemeint ist nicht immer unbedingt gut: Ist einzugreifen immer die richtige Strategie? Wie können Erwachsene am besten abschätzen, wann die Kinder bzw. Jugendlichen einen Streit selbst lösen können und wann nicht?</b><BR />Winkler: Wenn Kinder normal entwickelt sind, gehört es zum Großwerden, dass sie Konflikte austragen lernen. Das ist wichtig fürs Erwachsenwerden. Kindern lernen dabei viel an sozialer Kompetenz. Wenn es hingegen ausufert, zu Übergriffen oder Gewalt führt, dann ist der Erwachsene, der dies beobachtet, in der Pflicht, zu intervenieren, die Kinder angemessen zu begleiten. Es gibt Regeln und Kinder müssen diese lernen: Wir schlagen nicht. Nein heißt nein. Wir respektieren den anderen. Diese Regeln gilt es anzuwenden. Das gilt für die Familie, aber es gilt auch für die Schule. Lehrpersonen müssen sich über diese Dinge mit den Schülern austauschen: Wie gehen wir in der Klasse miteinander um? Das ist eine präventive Maßnahme: In der Schule lernt man nicht nur Geografie, Mathematik und Deutsch. Eine Klasse ist eine Gruppe, die zusammenfinden muss. Die Regeln des Miteinander kommen nicht von allein, an denen muss man ständig dranbleiben.<BR /><BR /><embed id="dtext86-58960964_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Eltern haben oft Angst davor, durch eine Anzeige jugendlicher Straftäter die Probleme ihres Kindes noch zu vergrößern. Ist diese Angst begründet?</b><BR />Winkler: Wenn Eltern von Konflikten auf dem Nachhauseweg hören, denken sie oft an die eigene Kindheit zurück und können nur schwer einschätzen, ob nun ein Übergriff passiert ist oder es nur jugendlicher Übermut war. Eltern nehmen das oft nicht so ernst. Kinder zeigen aber Anzeichen. <BR /><BR /><b>STOL: Worauf sollten Eltern achten?</b><BR />Winkler: Als Eltern muss man die eigenen Kinder beobachten: Wenn Kinder sich zurückziehen, psychosomatische Symptome wie Kopfweh oder Bauchweh haben, beginnen, die Schule zu schwänzen, weil sie sich bedroht fühlen: Da müssen Eltern hellhörig sein und das Gespräch mit den Kindern suchen. Was ist passiert? Wann? Wie oft? Nur heute? Wenn es in der Schule oder auf dem Heimweg war, empfehle ich, die Schule zu kontaktieren. Eltern sollten vermeiden, Eigeninitiativen zu starten, und die Eltern der Mobbingverursacher nicht gleich selbst kontaktieren. Dann driftet der Konflikt häufig auf die individuelle Ebene zwischen Familien. Gerade in kleineren Dörfern kommt das vor. Meldet man es hingegen in der Schule, bringt man es auf eine neutralere Ebene. Oft passieren solche Konflikte ja zwischen Gleichaltrigen in der Klasse: Die Schule kann aktiv werden und schauen, wie sich das Problem in der Schule äußert. Die Schule lädt dann die Eltern aller Beteiligten ein, man redet darüber, kann gezielte Maßnahmen setzen.<BR /><BR /><b>STOL: Auch Sanktionen?</b><BR />Winkler: Wenn man Regeln hat, muss es Konsequenzen geben, sonst haben die Regeln keinen Sinn. Sanktionen alleine reichen aber nicht aus. Man muss hinter eine Situation schauen und sehen, was die eigentlichen Ursachen dafür sind. Es gibt verschiedene Möglichkeiten: etwa Projekte zur Wiedergutmachung. Wenn ich einen Schaden verursache – einen Sachschaden – muss ich ihn ersetzen. Wenn ich übergriffig bin, kann ich das ebenfalls wieder gut machen.<BR /><BR /><b>STOL: Wie?</b><BR />Winkler: Da gibt es viele Möglichkeiten: Sozialstunden ableisten, für die Gemeinschaft etwas tun, anderen Schülern Gutes tun. Auch außerhalb der Schule kann man sich Partner suchen. Oft sind es die Fußballtrainer, die den Kindern Kontinuität geben. Sie sind eine wichtige Ressource und können positiv auf jugendliche „Täter“ einwirken. Denn man muss sich schon immer bewusst sein: Wer sind denn die „Täter“? Sie sind ja selber Jugendliche auf der Suche nach Anerkennung, Macht und Kontrolle; sie kompensieren ihre eigenen Unsicherheiten und Schwächen, indem sie andere drangsalieren. <BR /><BR /><embed id="dtext86-58960969_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Sie kompensieren ihre Schwächen aber zu Lasten anderer.</b><BR />Winkler: Für das Opfer ist das eine traumatische Erfahrung. Wenn jemand Gewaltsituationen erfahren hat, ist das ein massives Erleben von Schutzlosigkeit und Ohnmacht: Wenn Grundvertrauen, das jedes Kind haben müsste, verloren gegangen ist, muss man alles dafür tun, es wieder aufzubauen.<BR /><BR /><b>STOL: Wie?</b><BR />Winkler: Über das Gespräch: Kinder müssen lernen, Strategien zu entwickeln, zu reagieren. Es gibt Programme, um ihre Lebenskompetenzen zu stärken. Es gibt Situationen, in denen Schule und Eltern professionelle Hilfe und Begleitung brauchen. Dafür gibt es in Südtirol viele Anlaufstellen: Es gibt die psychologischen Dienste, Beratungsstellen, Gewaltprävention. Wir versuchen, die Eltern gezielt dafür zu sensibilisieren. Die Opfer müssen wissen: An wen kann ich mich wenden? Wer steht mir zur Seite?<BR /><BR /><b>STOL: Ist Versöhnung möglich?</b><BR />Winkler: Man kann Dinge auch wieder gut machen. Es ist sehr wichtig, gerade in dem Alter, dass man die Gelegenheit dazu bekommt. Kinder entwickeln sich weiter. Gewisse Dinge sind auch entwicklungsbedingt. Wenn sich die Lebenssituation ändert, die Pubertät zu Ende geht, lösen sich gewisse Dinge oft von selbst. Wiedergutmachung hat für mich einen hohen Stellenwert. Unser Ansatz sollte immer lösungsorientiert sein, man will ja nicht im Problem festsitzen.<BR /><BR /><b> <a href="https://www.stol.it/tag/Gewalt%20in%20S%C3%BCdtirol" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Mehr zu den Gewaltepisoden in Südtirol lesen Sie hier.</a></b>