Südtirol Online: Noch ist bunter Herbst, doch es wird zunehmend farbloser, trister. Das wirkt sich bei vielen auf die Stimmung aus. Welchen Einfluss haben die sich ankündigenden kalten und dunklen Tage generell auf uns Menschen?Roger Pycha, Primar des Psychiatrischen Dienstes am Krankenhaus Bruneck: Wir sind einfach müder, haben ein höheres Schlafbedürfnis, an die 8 - 10 Stunden pro Tag und wir haben mehr Hunger nach Süßem. Da kommen die Feiertage natürlich gerade recht. Mit einher geht oft eine Gewichtszunahme. Nach dem Frühjahr neigen Leute, die in der Zeit der Trägheit und Niedergeschlagenheit verfallen, dann zur Überaktivität, um das irgendwie wettzumachen.STOL: Warum sind der November, aber auch der Frühlingsbeginn, so schwierige Zeiten für bestimmte Personen?Pycha: Der Ganzjahresrhythmus des Menschen gerät aus dem Takt. Die Hormone spielen etwas verrückt. Generell geht das allen Leuten ein bisschen so, aber manche leiden wirklich in der Zeit.STOL: Sie sagen es - wie viele Menschen leiden unter dem sogenannten Novemberblues?Pycha: Rund 5 Prozent der Bevölkerung leiden unter Depressionen, die wir als Winterdepression kennen. Sie kommt in einer Zeit zwischen November und Februar-März zum Tragen. Interessanterweise kommt das Phänomen niemals am Äquator vor und wird zunehmend stärker, je weiter man nach Süden und Norden Richtung Pol geht.STOL: Ist es das Fehlen der Sonne, das bedrückend wirkt?Pycha: Ja, es handelt sich um eine Lichtmangelerkrankung. Im Winter fehlen auf natürliche Weise einfach 4 bis 5 Stunden an Licht. Hilfreich kann da eine Lichtlampe sein, vor die man sich am Morgen von 6 bis 7 Uhr und am Abend von 19 bis 20 Uhr setzt. Es muss allerdings die Nachahmung von echtem Licht sein, das in alle Regenbogenfarben zerfällt - sogenannte True Lights mit einer Wellenlänge zwischen 300 und 700 Nanometer.STOL: Wie fühlen sich die vom Novemberblues Betroffenen?Pycha: Die Betroffenen fühlen sich schlapp, niedergeschlagen. Sie haben keinen Antrieb. Betroffene glauben oft, sie sind mit all dem allein und von allem ausgeschlossen. Sie fühlen sich minderwertig.STOL: Reden wir beim Novemberblues immer von Depression?Pycha: Es ist eine Form von Depression. Die Leute sind dabei schneller reizbar und psychisch nicht so stabil. Vor allem in Übergangszeiten wie Herbst und Frühjahr kommt das zum Tragen. Wir reden von psychosomatischen Störungen, die eine Konsequenz aus Angst und Niedergeschlagenheit sind. Wir reden von Ängsten, die Betroffene durchleiden. Und wir reden von körperlichen Symptomen.STOL: Was kann ich tun, wenn ich merke, ich bin anfällig für „schwarze Tage und Phasen“?Pycha: Ich kann eine Psychotherapie machen. Oder ich nehme Medikamente. Antidepressiva sind viel besser als ihr Ruf. Sie machen nicht handlungsunfähig oder „deppat“, wie man oft meint. Sie helfen wirklich.STOL: Wie schwer ist es, den Novemberblues zu erkennen und richtig zu behandeln?Pycha: 70 Prozent der Menschen, die an Depressionen leiden, klagen über körperliche Symptome. Warum sie das tun? Weil sich keiner seiner körperlichen Schwächen schämt, wohl aber, wenn er seelisch leidet. Das empfinden viele so, als seien sie selbst daran schuld. Leider ist die ganze Medizin körperlich ausgelegt, das muss sich ändern, denn die psychischen Krankheiten sind Europas stille Killer.STOL: Wie lange und schwerwiegend können solche schwierigen Phasen sein?Pycha: Das hängt ganz von der Person ab. Es kann nach einigen Wochen aufhören – verfliegt vielleicht mit den Weihnachtsfeiertagen. Es kann aber auch schwere Ausmaße annehmen bis hin zu suizidgefährdendem Verhalten.STOL: Was kann ich tun, wenn ich merke, es geht mir nicht gut?Pycha: Es den Leuten zeigen, es sagen und nicht in sich hineinschlucken, dass es einem nicht gut geht. Sagen: Ich bin fertig. Schon das kann gut tun und ist der erste Schritt sich helfen zu lassen.STOL: Sind jene, die leiden, bereits vorbelastet?Pycha: Es ist so, dass Depressionen sehr oft auf Vererblichung zurückgehen und Menschen mit depressiven Eltern oder Großeltern leichter anfällig dafür sind.STOL: Was kann einem noch helfen, die Zeit zu überstehen?Pycha: Ein intaktes soziales Umfeld ist sehr hilfreich. Wenn man sich an Kinder, Partner und Freunden halten kann, ist das ideal. Das zeigt einem: Ich bin nicht allein, ich kann es schaffen und die Kurve kriegen.STOL: Und wenn ich niemanden habe?Pycha: Diese Menschen haben das Gefühl, dem Ganzen besonders ausgeliefert zu sein. Da gibt es die Möglichkeit, sich an Stellen und Zentren zu wenden und sich etwa an Festtagen auch mit Unbekannten zusammenzutun. Denn Feiertage haben sonst oft einen Verschärfungseffekt.STOL: Was können Außenstehende tun?Pycha: Die Betroffenen anlächeln, sich ihnen – wenn möglich – körperlich nähern, etwa durch ein Schulterklopfen, einen Handschlag, eine Umarmung. Das kann für Leute, die sich außen vor fühlen, aufmunternd sein.Interview: Petra Kerschbaumer_________________________________________________Wohin soll ich mich wenden?Die Telefonseelsorge ist unter der Grünen Nummer Tel. 840 000 481 durchgehend - auch nachts und an Wochenenden - erreichbar. Die ausgebildeten Ehrenamtlichen stehen für ein entlastendes, klärendes Gespräch zur Verfügung und überlegen, welche Ansprechperson bzw. Adresse weiterführend geeignet wäre. Die Ehe- und Erziehungsberatungsstelle (auch "Familienberatung" genannt) in Bozen hat ausgebildete Psychotherapeut/innen, die Ansprechpartner auch für persönliche Probleme/Krisen von Einzelpersonen sind. Kontaktdaten unter www.familienberatung.it. Die Beratung ist kostenlos.