Mehr als 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es in dieser Weltregion noch immer immense territoriale Streitigkeiten. Beispielsweise beanspruchen Russland und Japan die Kurileninseln jeweils für sich.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="783203_image" /></div> <BR /><b>Herr Melber, die Schlacht um Midway jährte sich vor Kurzem zum 80. Mal. Welche Bedeutung hatte sie für den Verlauf des Zweiten Weltkriegs?</b><BR />Takuma Melber: Die Schlacht um Midway zählt zu den wichtigsten Seeschlachten der Weltgeschichte und steht in einer Reihe mit Schlachten wie etwa Trafalgar oder Tsushima. Midway war die große Seeschlacht des Zweiten Weltkriegs im Pazifik, bei der sich die Flugzeugträgerflotten der USA und Japans gegenüberstanden: Die drei amerikanischen Träger Enterprise, Hornet und Yorktown versus die japanischen Träger Akagi, Hiryu, Kaga und Soryu mit ihren sie jeweils begleitenden Verbänden. Am Ende der Schlacht hatten die USA mit der USS Yorktown den Verlust eines Trägers zu beklagen. Japan verlor aber alle vier Flugzeugträger und damit zwei Drittel all seiner damals zur Verfügung stehenden Träger. Noch schwerer wog für Japan aber der Verlust seiner sehr gut ausgebildeten und kampferprobten Piloten: Über 3000 Japaner ließen bei Midway ihr Leben – Personal, das bis zum Kriegsende nicht mehr adäquat ersetzt werden konnte. Damit einhergehend verlor Japan die Kontrolle über den Pazifik, während die USA sukzessive die Oberhand gewannen. Midway gilt daher sowohl in den USA als auch in Japan als Wendepunkt des Pazifikkriegs.<BR /><BR /><b>Schon zuvor gelang es den US-Streitkräften immer mehr die Initiative zu ergreifen, nachdem sie zuerst bei Pearl Harbor kalt erwischt wurden. Wie gelang es innerhalb weniger Monate eine solche militärische Dominanz herzustellen?</b><BR />Melber: Man muss natürlich sagen, dass die bereits zu Kriegsbeginn gegebene Grundkonstellation klar für die USA sprach: Im Vergleich zu Japan waren die Vereinigten Staaten ein riesiges Land mit viel mehr Ressourcen, d.h. Rohstoffen, aber auch Manpower, die ökonomische Potenz Amerikas war höher und auch industriell gab Washington den Ton an. Das war auch dem Japanischen Kaiserreich und allen voran Admiral Yamamoto, Japans militärischem Mastermind und Chefstrategen im Zweiten Weltkrieg, vollkommen bewusst. Daher setzte Japan mit Pearl Harbor zu Beginn des Pazifikkriegs alles auf eine Karte, voll auf das Überraschungsmoment eines Überfallangriffs. Der Plan ging aber nicht ganz auf: Zwar wurde die in Hawaii vor Anker liegende US-Kriegsflotte schwer getroffen, aber die im Pazifik stationierten Flugzeugträger der USA überstanden den Angriff unbeschadet. Denn keiner der Flugzeugträger war am Morgen des 7. Dezember 1941 in Pearl Harbor. Zudem hatte Japan es versäumt, den Angriff auf den US-Stützpunkt Pearl Harbor mit letzter Konsequenz zu führen, d.h. auch die Öltanks und Werften zu zerstören oder gar den Stützpunkt mit Landetruppen einzunehmen. Das sollte sich später bitter rächen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-54931872_quote" /><BR /><BR /><b>Warum?</b><BR />Melber: Aufgrund der dort vorhanden gebliebenen Infrastruktur konnten die USA bei Pearl Harbor beschädigte Kriegsschiffe vergleichsweise schnell wieder in Stand setzen. Auch die USS Yorktown, die im Mai 1942 im Korallenmeer einen schweren Bombentreffer erlitten hatte, konnte in den Flottenwerften Pearl Harbors so weit auf Vordermann gebracht werden, dass sie bei der Schlacht um Midway zum Einsatz kam – sehr zur Überraschung der Japaner. Außerdem war es amerikanischen Kryptographen in der Zwischenzeit gelungen, Japans Marinecode JN-25 so weit zu entschlüsseln, dass die USA ganz gut über Japans Kriegspläne Bescheid wussten. Ein halbes Jahr nach und im Gegensatz zu Pearl Harbor hatte Japan das Überraschungsmoment bei Midway nicht mehr auf seiner Seite.<BR /><BR /><BR /><b>Dennoch wird von einigen Seiten kritisiert, dass der Schlacht heutzutage eine zu große symbolische Gewichtung zukommt. Wie sehen Sie diesen Diskurs?</b><BR />Melber: Es lässt sich aus meiner Sicht schwer die Bedeutung Midways als de facto Wendepunkt im Pazifikkrieg leugnen. Ab dem Sommer 1942 lag die Initiative ganz klar auf amerikanischer Seite und die US-Streitkräfte waren von da an in der Offensive, während Japan durch und nach Midway die Kontrolle über die Weiten des Pazifiks sukzessive verlor und sich in die Defensive gedrängt sah. Und doch bin auch ich davon überzeugt, dass Washington aufgrund seines Ressourcenreichtums, seiner starken Wirtschaft und schnellen Kriegsrüstung über kurz oder lang den Pazifikkrieg gewonnen hätte – auch ohne die Schlacht bei Midway. Der Sieg der USA war also nur eine Frage der Zeit. Der amerikanische Erfolg bei Midway hat den Weg dorthin aber sicherlich deutlich verkürzt.<BR /><BR /><b>Die USA gingen anschließend im Pazifik vermehrt zur Offensive über. Wie sehr beeinflusste das auch die Situation auf den Schlachtfeldern Europas?</b><BR />Melber: Die USA führten ja ab Dezember 1941 einen Krieg an zwei Fronten und zwei Ozeanen: über den Atlantik hinweg in Europa und im Pazifik gegen die Truppen des Japanischen Kaiserreichs. Washington hatte mit London aber schon früh eine „Europe First“- oder „Germany First“-, also eine „Europa zuerst“- bzw. „Deutschland zuerst“-Strategie vereinbart. Das wurde auch immer wieder von US-Militärs und Politikern betont, allen voran von Präsident Franklin D. Roosevelt. In den USA war allerdings der Krieg gegen Japan als Rache für Pearl Harbor zunächst populärer, der ja ein direkter Angriff auf US-Territorium gewesen ist. Und die historische Forschung konnte tatsächlich nachweisen, dass Washington seine Kriegsmittel in der Realität stärker im Pazifik ins Feld führte. Erst mit Operation Overlord, der alliierten Landung in der Normandie, kippte die Waage des amerikanischen Kriegseinsatzes sehr stark auf die europäische Seite – und nach der deutschen Kapitulation dann natürlich mehr oder minder vollumfänglich auf den Pazifik, um dem Zweiten Weltkrieg dann ein schnelles Ende zu bereiten.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="783206_image" /></div> <BR /><BR /><b>Wie sehr ist die Erinnerung an die Schlacht heute noch in der US-Amerikanischen und Japanischen Gesellschaft verankert?</b><BR />Melber: Auch wenn durch Roland Emmerichs Hollywood-Blockbuster Midway 2019 dieses bedeutende Kriegsereignis zentral ins Scheinwerferlicht gerückt wurde, dürfen wir Midway mit Blick auf seine Bedeutung in der Erinnerung sicherlich nicht überstrapazieren. Militärs, militärisch und historisch Interessierten ist Midway sowohl in Japan als auch in den USA freilich ein Begriff. Aber die Erinnerung an Midway ist über all die Jahrzehnte hinweg doch verblasst. Die Schlacht steht – trotz ihrer militärstrategischen und historischen Bedeutung – in der Erinnerungskultur beider Länder klar im Schatten anderer Ereignisse: Japan fokussiert in seiner Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg vor allem auf ein Opfernarrativ, auf „Japan als das letzte Opfer des Zweiten Weltkriegs“ aufgrund der für die Menschheitsgeschichte einzigartigen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. In den USA steht vor allem Pearl Harbor im Fokus sowie natürlich die Erinnerung an Kriege nach 1945, denken Sie etwa an den Koreakrieg, den Vietnamkrieg, die Interventionen im Irak und in Afghanistan, den War on Terror. Ein Midway Monument gibt es zwar, es steht aber nicht etwa in Washington, sondern auf dem nahezu unbewohnten Midway Atoll Tausende Kilometer vom amerikanischen Festland entfernt, irgendwo im Nirgendwo in den Weiten des Pazifischen Ozeans.<BR /><BR /><BR /><b>Die geopolitische Situation hat sich in den vergangenen Monaten zugespitzt. China gilt zumindest als indirekter Unterstützer Russlands. Wie sehr entsteht damit auch im Pazifischen Raum die Gefahr einer erneuten Konfrontation. Schließlich prallen hier auch viele Interessen aufeinander...</b><BR />Melber: Dieser Tage wurden Aktivitäten russischer und chinesischer Kriegsschiffe im Pazifik gemeldet, diese sind als „Säbelrasseln“, als Machtdemonstration und vor allem als eine Reaktion Beijings und Moskaus auf die Quad-Allianz zu verstehen: Die USA und Japan – heute partnerschaftlich Seite an Seite im Pazifik stehend – bilden diese Allianz gemeinsam mit Australien und Indien, um die Freiheit des Indo-Pazifik zu gewährleisten und diesen als Einflusssphäre vor allem China, aber auch Russland nicht zu überlassen. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass es auch über 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer immense territoriale Streitigkeiten im Pazifik gibt. Beispielsweise beanspruchen Russland und Japan die Kurileninseln jeweils für sich, die Volksrepublik China erkennt die nationale Unabhängigkeit Taiwans nicht an und betrachtet die Insel als chinesisches Territorium. All das birgt natürlich Konfliktpotentiale. Doch sehe ich – Stand heute – nicht, dass Moskau und Beijing in einer Form direkt miteinander kooperieren, um etwa gemeinsam im militärischen Verbund territoriale Interessen im asiatisch-pazifischen Raum durchzusetzen. Vielmehr hat China weiterhin großes Interesse daran, mit dem Westen, d.h. den USA und der EU, aber auch mit Japan zu kooperieren, gerade wirtschaftlich. Zugleich schaut sich China aber die Reaktion des Westens auf die russische Aggression in der Ukraine ganz genau an und wer weiß, ob China für seine Taiwan-Bestrebungen nicht auch zu militärischen Mitteln greifen wird, sollte der Westen im Ukrainekrieg den Machthabern in Beijing unentschlossen und schwach erscheinen.<BR /><BR /><b>Welche Lehren sollten wir aus den Schlachten des Zweiten Weltkrieges für die heutige Zeit ziehen?</b><BR />Melber: Die größte Lehre sollte ja sein, dass sich so ein schlimmes Ereignis wie der Zweite Weltkrieg nie mehr wiederholen darf. Und bis vor wenigen Monaten war ein Krieg in Europa im 21. Jahrhundert für viele von uns noch völlig undenkbar. Heute müssen wir uns aber alle eingestehen, dass der Ukrainekrieg natürlich die Gefahr birgt, einen echten Weltenbrand zu entfachen. Dass es richtig und wichtig ist für die Werte der freien Welt einzustehen und diese mit allen Mitteln – wenn es sein muss militärischen – zu verteidigen, halte ich für eine der wichtigsten Lehren aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Zudem sollten wir nicht vergessen, dass der Zweite Weltkrieg einen immensen Mitteleinsatz zum Wiederaufbau ganzer Länder und Gesellschaften, von Infrastrukturen, des Weltwirtschaftssystems und internationaler Beziehungen erforderlich machte. Das war ein langwieriger, mühsamer, teurer und steiniger Prozess, der die Grundlage für Jahrzehnte des Friedens in Europa bildete. Dieser Abschnitt der Menschheitsgeschichte darf sich keinesfalls wiederholen. Das Töten und Sterben in der Ukraine muss daher schnell beendet werden, um Europa, ja womöglich die ganze Welt vor Schlimmerem zu bewahren. Die Politik findet hoffentlich einen guten Weg dafür. <BR />