„Pace e bene“ steht neben der Tür, ein Gruß des heiligen Franz von Assisi, der Frieden und Gutes wünscht. Darüber flattern bunte Gebetsfahnen im Wind. Trotz Geranien im Fenster und Kälbern auf der Wiese ist die Schellab-Alm, umrahmt von Rotwand, Dreischusterspitze und Gsell, keine Alm wie jede andere – und Rüdi kein Hirte wie jeder andere. <h3> Zwischen Wiesen, Felsen und Spiritualität</h3> Den dritten Sommer verbringt der Schweizer im Pustertal. Nach zwei Saisonen auf der Nemes-Alm hat es ihn heuer auf die gegenüberliegende Talseite verschlagen. Doch auch hier, zwischen den Wiesen und Felsen der Sextner Dolomiten, trägt er Indien noch immer in sich. Drei Jahrzehnte hat der IT-Spezialist dort verbracht, in Schulen gearbeitet, in Zen-Klöstern gelebt, in Ashrams meditiert und auf Reisen zu anderen – und zu sich selbst – gefunden. Spiritualität ist für ihn kein fernes Konzept, sondern etwas, das er lebt, das in jedem Atemzug mitschwingt – und das er auch auf die Alm mitgebracht hat. <BR /><BR />Die Tiere, für die er sorgt, gehören Bauern aus der Fraktion Moos, erklärt Siegfried Tschurtschenthaler, der Obmann der Alm. Über eine Internetseite ist er auf den Schweizer aufmerksam geworden und hat ihn zuerst für die Nemes-Alm und nun für die Schellab-Alm engagiert. <BR /><BR />Für Rüdi ist das Leben hier oben eine Rückkehr zu den Wurzeln. Aufgewachsen auf einem Bauernhof im Kanton Bern, bekam er mit zehn Jahren vom Nachbarn eine Ziege geschenkt. „Die habe ich immer gern gehabt“, erinnert er sich. Doch bald war ihm das Dorf zu eng. Es zog ihn hinaus – erst nach Amerika, dann nach Indien. Dort lernte er seine Frau kennen, eine Österreicherin, und dort kamen auch die drei Kinder zur Welt. Mit seiner Pensionierung lief sein Arbeitsvisum in Indien aus, seither lebt er in Oberösterreich – und im Sommer auf der Alm. <h3> Jeder soll sich denken „Wow, das passt hier“</h3>Dort schaut der 65-Jährige nach den Tieren, kontrolliert die Zäune und die Wassertränke, dreht mit den Ziegen eine Runde – „ich bin da, lasse mich ein auf die Tiere und die Natur“, sagt er. Aber Rüdi hat noch eine Mission, „eine kleine“, schränkt er ein. „Ich möchte, dass jeder, der hier vorbeikommt, und jedes Tier, das hier lebt, das Gefühl haben: Wow, das passt hier, da bin ich gern.“ Sagt’s und ruft sein freundliches „Hallo“ den nächsten Wanderern zu, die auf dem viel begangenen Weg zwischen Rotwandwiesen und Kreuzbergpass unterwegs sind.<BR /><BR />Lars und Sandra Günther mit den Kindern Luis und Mia sowie Dalmatiner Ona kommen näher. „Das ist ein Traum hier“, schwärmt Lars und stellt über den Zaun hinweg Fragen, mit denen Rüdi nicht viel anfangen kann – oder will. Ob er die Hütte gekauft habe, wem sie gehöre, will er wissen. „Man muss das nicht kaufen, um hier sein zu dürfen und zu genießen. Wem sie gehört, kümmert mich nicht – solange ich hier sein kann“, sagt Rüdi, erklärt den Spruch vor der Tür und lädt zum Schnaps. Ausschank gibt es auf der Alm keinen, Gastfreundschaft schon. <h3> Naturbelassen und urig</h3> „So ein schönes Fleckchen Erde – das müsst ihr bewahren“, sagt der Erfurter, während Rüdi schnell nach dem Roggen-Sauerteigbrot im Holzofen schaut und mit dem Schnaps und Gläsern wiederkommt.<BR /><BR /> Bald ergibt sich ein Gespräch über das Land und seine Gäste, über volle Straßen und teure Preise – und die Aufgaben als Hirte und die Infrastruktur auf der Alm. Rüdi erzählt gerne. Milch bekomme er von den Ziegen, den Strom vom kleinen Solarpanel am Dach, das Holz für den Ofen vom Wald, das Quellwasser über eine Leitung in die Hütte, und eine Kübeldusche unter freiem Himmel, die gibt es auch. Alles, was er sonst noch so braucht, bringt ihm Siegfried Tschurtschenthaler über die Forststraße herauf. <BR /><BR />Die Thüringer – Stammgäste im Pustertal – sind begeistert: „Naturbelassen und urig – mehr braucht man nicht“, finden sie – und Rüdi gibt ihnen recht. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1201110_image" /></div> <BR /><BR />„Es ist das einfache Leben, das man hier auf den Südtiroler Almen haben kann, einfach mal eine Fünf gerade sein lassen“, sagt er. Deshalb stört es ihn auch nicht, dass das Dach nicht mehr ganz dicht ist und es bei Regen neben seinem Bett tropft. Es sei also früh genug, wenn das Dach im Herbst gemacht wird, wenn er nicht mehr da ist, sagt Rüdi zu Forstinspektor Günther Pörnbacher und Förster Stefan Amhof, die heute auf der Alm sind, um die anstehenden Arbeiten zu besprechen.<BR /><BR /> „Als Forstdienst sind wir auch für die Almwirtschaft zuständig“, erklärt Pörnbacher. „In Absprache mit den Besitzern bzw. Verwaltern der Almen führen wir zum Beispiel Verbesserungsarbeiten an Hütten, Wegen, Zäunen und Weiden durch.“ Auf der Schellab-Alm werden sie aber erst im Herbst tätig werden. Bevor Rüdi die Hütte zusperrt, möchte die Familie aus Thüringen wiederkommen – „dann bringe ich Bier mit“, verspricht Lars Günther, ehe sich die Urlauber mitsamt Hund zurück ins Tal begeben. <h3> Die Stille und die Menschen</h3>Rüdi mag die Menschen, die es im Sommer in Scharen an seiner Hütte vorbeizieht und denen er sein „Buongiorno“ oder „Hallo“ entgegenruft. Gerne wechselt er ein paar Worte oder lädt zu sich an den Tisch ein. So wie kurz später Helmuth und Martina aus Wien. Sie sprechen das Thema an, das seit ein paar Jahren die Almwirtschaft beherrscht – den Wolf. Auf der Nemes-Alm haben Wölfe im Vorjahr mehrere Ziegen gerissen, erzählt Rüdi, heuer habe er noch keinen wahrgenommen, bringt die Ziegen aber abends sicherheitshalber in den Stall. Angst habe er keine. <BR /><BR />„Hier hat es Rehe und Hasen, der Wolf wartet bestimmt nicht auf mich“, sagt er. Und überhaupt: „Ich glaube, gerade wir als Spezies Mensch haben nicht das Recht zu sagen, der Wolf macht so viel kaputt.“ Die beiden Wiener sind zwar nicht beruhigt, aber ganz Unrecht hat er ja nicht, der Hirte. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1201113_image" /></div> <BR />Rüdi mag auch die Stille – am Morgen und am Abend, wenn er meditiert und spirituelle Texte liest. „Die Berge spiegeln die Seele“, sagt er. Deshalb ist er gerne dort, sucht diese Kraftorte, die mitunter schwer sein können. Zum Beispiel, wenn er sich bei seinen Spaziergängen mit den Ziegen in einen der Schützengräben von damals setzt, als sich durch die Sextner Berge eine hart umkämpfte Frontlinie zog. <BR /><BR />„Da saßen Soldaten, die wussten, dass sie hier wahrscheinlich elendig zugrunde gehen werden. Das waren keine anderen Menschen, als ich es bin.“ Das gebe zu denken – wenn er da sitzt, meditiert und den Ziegen beim Grasen zuschaut. Die Geschichte Südtirols kennt der Schweizer, er hat viel gelesen, unter anderem Claus Gatterers „Schöne Welt, böse Leut“.<BR /><BR />Und was kommt nach der Saison auf der Alm? Wieder so eine Frage, mit der Rüdi nichts anfangen kann. „Das wird sich weisen.“ Für Rüdi zählt nur der Moment – wie jetzt, wenn er vor seiner Hütte sitzt, in die Berge schaut, das Läuten der Kuhglocken hört und weiß: Hier bin ich richtig.