Pichler leitet in Japan das Import-Unternehmen „Bontá del Tirolo", das mit Südtiroler und anderen italienischen Produkten handelt. Mit seiner japanischen Frau und den Kindern erlebt er in diesen Tagen das bisher schlimmste Unglück seines Lebens.„Hier schaut es nicht gut aus“, so sein erster Satz, als ihn „Südtirol Online“ zum Telefon-Interview bittet. Südtirol Online: Wo in Japan befinden Sie sich?Franz Pichler: Wir sind zum Glück Ende Dezember nach Fukuoka gezogen. Das ist ungefähr 1200 Kilometer weit weg von dem Krisengebiet und liegt auf der Insel Ky?sh?. Vorher habe ich vier Jahre lang in Kyoto gelebt, das ist ziemlich nahe. STOL: Der Umzug war also eine gute Entscheidung.Pichler: Ja. Das Unglück ist ein Riesenproblem: Viele meiner Freunde und Geschäftspartner wohnen direkt dort, wo das alles passiert ist. Manche wohnen in der Präfektur Miyagi, die besonders hart von Erdbeben und Tsunami getroffen wurde. Ich versuche sie zu erreichen, aber man kommt nach drei Tagen immer noch nicht durch. STOL: Weder telefonisch noch per E-Mail?Pichler: Per Telefon geht nichts. Ein Supermarkt-Kunde in Miyagi antwortet auch per Mail nicht, während ich andere, die ein bisschen weiter weg wohnen, via Facebook oder Twitter erreichen konnte. Auch Verwandte meiner Frau versuchen wir bereits seit drei Tagen zu erreichen, aber man hört einfach nichts von ihnen.STOL: Da ist die Sorge natürlich groß.Pichler: Auf alle Fälle. Es ist der totale Wahnsinn. Man sieht hier im japanischen Fernsehen so viele Bilder, die von Privatpersonen aufgenommen worden sind. Kinder, dir vor den Augen ihrer Mütter weggeschwemmt werden. Es ist unglaublich.STOL: Haben Sie etwas von dem Erdbeben am Freitag gespürt?Pichler: Gespürt habe ich nichts, dafür sind wir zu weit weg. Hier in Japan kann man sich aber bei einem Mail- oder SMS-Dienst anmelden, sodass man sofort alarmiert wird, wenn etwas passiert. Ich habe per SMS von dem Erdbeben erfahren. STOL: Was haben sie in dem Moment gedacht?Pichler: Ich habe mir gleich gedacht, wenn das so ein starkes Erdbeben ist, kommt wahrscheinlich ein wahnsinniger Tsunami. Und der kam dann auch schnell.STOL: Diese Schlussfolgerung haben Sie gleich gezogen?Pichler: Ja, an so etwas denkt man hier immer gleich. Immer Sommer, während der Regenzeit, denkt man sofort an einen Erdrutsch. Es ist so – entweder Erdrutsch oder Tsunami.STOL: Waren Sie von dem Tsunami betroffen?Pichler: Schon, wir haben aber nur sehr kleine Tsunamis mitbekommen. Wir wohnen direkt an der Küste – allerdings nicht am Pazifik, sondern am japanischen Meer. Bei uns gab es 40 bis 50 Zentimeter hohe Wellen, das ist auch ziemlich viel. Schäden hat es aber keine gegeben. STOL: Die Flutwelle, die die Küste rund um die Hafenstadt Sendai traf, war rund zehn Meter hoch.Pichler: Wahnsinn! Gerade an dieser Küste habe ich ab und zu Urlaub gemacht, sie ist wunderschön. Es gibt viele kleine Buchten mit Fischerdörfern, die sind jetzt alle weg. Das ist unvorstellbar. Die Welle ist fünf Kilometer ins Landesinnere vorgedrungen und hat alles wegrasiert. Viele Opfer wurden wohl ins Meer hinausgetragen.STOL: Die größte Sorge ist derzeit aber ein Atomunglück. Pichler: Ja, das ist gerade das größte Problem.STOL: Inwieweit wären Sie betroffen, wenn es zu einer Kernschmelze kommen würde?Pichler: Das kommt auf den Wind an. Jetzt haben wir auch noch schlechtes Wetter. Im Norden gibt es Schnee, es ist kalt. Wenn es regnet, trägt es aller hier herunter. STOL: Wie geht es Ihren Bekannten in der Krisenregion? Mussten sie sich in Sicherheit bringen?Pichler: Einige gute Kollegen wohnen mit ihren Kindern da. Sie machen sich natürlich Riesensorgen. Diese Freunde wohnen aber etwa 150 Kilometer weit weg von den Reaktoren, also konnten sie bleiben. Ein großes Problem ist aber auch, dass es dort nichts mehr zum Kaufen gibt. Die Regale in den Supermärkten sind leer. Sogar die Getränkeautomaten sind leer. STOL: Welche Vorkehrungen mussten Sie treffen?Pichler: Wir müssen alle Energie sparen und so wenig Strom wie möglich verbrauchen. Hier bei uns geht es noch, da es nicht kalt ist. Viele heizen hier nämlich mit Klimaanlagen, und die brauchen viel Strom. Im Norden aber liegen die Temperaturen in der Nacht unter Null Grad Celsius. Auch Züge und Flüge wurden gestrichen. STOL: War die japanische Regierung gut auf die Katastrophe vorbereitet?Pichler: Sie war sehr gut vorbereitet. Allerdings gibt es 500.000 Obdachlose, und das überfordert alle. Ein großes Problem sind auch die vielen Leichen: Es gibt nämlich nicht genug Leichensäcke. STOL: Denken Sie in so einer Situation nicht an eine Ausreise?Pichler: Natürlich schon. 1200 Kilometer klingen zwar weit, wenn sich aber der Wind dreht, ist sofort alles hier. STOL: Würde eine Ausreise überhaupt funktionieren, jetzt, da zahlreiche Flüge gestrichen wurden und Züge ausfallen?Pichler: Wir wohnen sehr nahe an Korea. Wenn es tatsächlich keinen Flug mehr geben würde, müssten wir mit der Fähre nach Korea und von dort aus weiterfliegen.STOL: Was sagt Ihre Familie?Pichler: Familie und Freunde haben mich gleich kontaktiert. Sie machen sich große Sorgen. Natürlich wollen sie, dass ich weg gehe, doch das ist nicht so einfach. Man kann nicht alles liegen und stehen lassen. Außerdem möchte ich die Leute hier nicht im Stich lassen, ich möchte hier bleiben und helfen, alles wieder aufzubauen. Ich habe inzwischen fast mehr Angehörige hier als in Südtirol.STOL: Arbeiten Sie weiterhin?Pichler: Ich arbeite schon weiter, allerdings habe ich große Probleme mit meinen Kunden. Die Logistikfirmen sind total überfordert. Es herrscht Benzinknappheit und viele Straßen sind total zerstört. Auch der Hafen ist zerstört. STOL: Wie ist die Stimmung derzeit in Japan?Pichler: Die Leute leben hier mit Erdbeben oder Tsunamis. Dass es 1000 Tote geben und das Leben am nächsten Tag weg sein kann, darauf ist man gefasst. Das Schlimme ist die Radioaktivität: Man sieht sie und riecht sie nicht. Man weiß auch nicht, ob man den Nachrichten glauben kann. Einmal heißt es A, dann wieder B. Man weiß nicht genau, was passiert.STOL: Wie halten Sie sich über das Unglück auf dem Laufenden?Pichler: Über NHK, den nationalen Fernsehsender, und BBC. STOL: Die Informationspolitik der japanischen Behörden gilt als zurückhaltend. Pichler: Ja, allerdings herrscht hier ein Mega-Chaos. Ich denke, sie wissen auch nicht genau, was passiert. Sie geben wohl lieber weniger Informationen, als Panik zu schüren. Panik muss auf alle Kosten vermieden werden. STOL: Sie sind also in ständiger Alarmbereitschaft.Pichler: Ich schaue 17 Stunden am Tag während der Arbeit Fernsehen. Auch in der Nacht kontrolliere ich ab und zu meine E-Mails. Man weiß ja nie, was kommt. Wenn noch etwas Brutaleres passieren würde, würde ich schon von hier weggehen. STOL: Was müsste passieren?Pichler: Wenn es den totalen Super-Gau geben würde. Die Atomkraftwerke sind hier zwar gut gebaut, aber auf so etwas war man nicht gefasst.STOL: Wird man da skeptisch der Atomenergie gegenüber?Pichler: Sicherlich, ich war immer schon skeptisch. Auf der anderen Seite leben in Japan so viele Leute, da braucht es die Energie. Mit den alternativen Energien ist es nicht getan, es braucht schon einen starken Energieträger.STOL: Derzeit heißt es für Sie also abwarten.Pichler: Das ist das einzige, was man machen kann: Abwarten und hoffen, dass es sich zum Guten wendet. Die Situation hier in Japan ist wirklich schlimm. Es ist wie die Hölle auf Erden. Interview: Barbara Raich