<b>Frau Zanellato Kraus, welche Erinnerungen haben Sie noch an diesen 22. September 1943?</b><BR />„Viky“ Zanellato Kraus: Es kamen 2 Uniformierte zu uns in die Wohnung in Oberbozen am Ritten. Ich hatte als 7-Jährige keine Ahnung, was die da wollten. Meine Tante sagte zu mir: Wir gehen jetzt deinen Daddy suchen. Ich habe meinen Vater immer Daddy genannt. Man hatte mir bis dahin nie die Wahrheit gesagt, dass mein Vater nicht mehr lebt. So sind wir – meine Tante Ilse und meine Kusine Ruth – mit der Zahnradbahn nach Bozen gefahren. Ich trug ein gestricktes ,Sarner-Jaggele‘, ein Röckchen, hohe Schuhe und hatte einen kleinen Rucksack auf dem Buckel. Ich war guter Dinge, denn ich dachte, wir gehen jetzt auf Reisen nach Afrika. Die ganze Zeit mit dabei war aber auch Hans Pattis – mein späterer Ziehvater.<BR /><BR /><b>Wer war Hans Pattis?</b><BR />Zanellato Kraus: Hans Pattis war ein Bozner Wirt, der mit seiner Frau Luise Tomasi-Pattis in Oberbozen eine Pension führte. Er war Leiter des Rittner SOD (Südtiroler Ordnungsdienst, eine polizeiähnliche Hilfstruppe der Nazis in Südtirol, Anm. d. Red.), er war aber kein Nazi, das weiß ich. Er war ein stattlicher Mann, die Leute mochten ihn sehr gern.<BR /><BR /><b>Wer hat Sie, Ihre Tante und Kusine denn denunziert?</b><BR />Zanellato Kraus: Als 1943 die Deutschen nach Südtirol gekommen sind, wurden sie ja feierlich empfangen. Da gab es übrigens einen Herrn Karl Tribus aus Lana, der gesagt haben soll: Jetzt werde ich zeigen, was ich kann, und sämtliche Juden deportieren lassen, die ich kenne. Also wurde auch am Ritten gefragt, ob es da Juden gibt. Und jemand sagte: Dort, in der kleinen Ferienwohnung wohnt eine Frau mit 2 Kindern, „de moan i, isch a Jüdin“. Wir wurden der Gestapo sofort angezeigt.<BR /><BR /><b>Wo ging’s in Bozen hin?</b><BR />Zanellato Kraus: In die Bindergasse, ins Hauptquartier im Hotel „Mondschein“, dort hatte die Gestapo ihr Zentralbüro. <BR /><BR /><b>Was geschah dann?</b><BR />Zanellato Kraus: Mein Ziehvater erhob die Stimme und sagte: „Das Kind kommt mir nicht mit, das bleibt bei mir. Der Vater des Kindes hat als italienischer Offizier fürs Vaterland gekämpft und das Kind ist nur Halbjüdin.“ Er mit seinen 50 Jahren und ich 7, ich hätte fast sein Enkelkind sein können. Dann sagte er zu mir: „Komm, Viky, du gehst mit mir.“ Aber ich wollte nicht, ich wollte ja meinen Daddy sehen. Ich hab geweint und mich an einem Baum festgehalten, der dort im Hof stand. Ich wollte unbedingt meinen Vater sehen. Ich habe geweint. Aber er sagte: „Kimm lei, Gitschele, du geahsch ietz mit mir mit.“ Er packte mich mit seinen Armen und zog mich weg. Das war das letzte Mal, dass ich meine Tante und Ruth gesehen habe. Sie wurden in einem Viehwaggon nach Innsbruck gebracht.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="858020_image" /></div> <BR /><BR /><b>Konnte Ihr Ziehvater für die beiden nichts tun?</b><BR />Zanellato Kraus: Versucht hat er’s, aber er konnte nichts ausrichten. Er wollte uns vorher auch verstecken, aber meine Tante Ilse war so ein herzensguter Mensch, der niemanden etwas zuleide tat und daher glaubte, dass ihr auch niemand Böses wollte, also wollte sie sich nicht verstecken.<BR /><b><BR />Am selben Tag ging’s wieder zurück auf den Ritten?</b><BR />Zanellato Kraus: Ich erinnere mich noch, wie ich zu meiner Ziehmutter in die Küche kam und sie zu mir sagte: „Na, jetzt kommst du zu mir? Kommst gern zu mir, oder?“ Ja, schon, sagte ich, das würd’ ich schon gern, aber dann muss ich alles essen. Ja, sagte sie, das musst du. Und damit war das Einführungsinterview schon beendet (lacht). Meine Ziehmutter war sehr streng, aber ich muss sagen, ich war ein verhätscheltes, ungezogenes Kind, heikel beim Essen. Als noch meine Tante lebte, habe ich auch beim Essen gebockt und hab mich auf den Boden gesetzt. Da schaute mich Tante Luise, wie ich meine Ziehmutter schon vorher nannte, mit ihren stahlblauen Augen an, da stand ich gerne auf.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="858023_image" /></div> <BR /><BR /><b>Waren Sie traurig?</b><BR />Zanellato Kraus: Traurig war ich nicht, nur vor der Strenge hatte ich Angst. Aber meine Tante Luise wurde zu meiner wunderbaren, geliebten und herzensguten Ziehmutter. Meine Zieheltern liebten mich über alles und ich sie. Ich hatte eine glückliche Kindheit, mir hat es an nichts gefehlt. Welches Risiko sie für mich eingegangen sind, habe ich erst später verstanden. Ich sehe in allem eine Fügung Gottes. Sie müssen wissen, für meine Eltern war ich eine Prinzessin. Womöglich wäre ich ein ungezogener Mensch geworden, der nur an sich denkt und nichts für andere empfindet. Mit meinen Zieheltern, das denk ich mir oft, wurden mir Menschen geschickt, die mir das beigebracht haben.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="858026_image" /></div> <BR /><BR /><b>Kannten sich Ihre Mutter und Ihre Ziehmutter?</b><BR />Zanellato Kraus: Ja, meine Ziehmutter war mit meiner Mutter sehr gut befreundet. Nach dem Tod meiner Mutter war meine Ziehmutter auch Tante Ilse immer behilflich.<BR /><BR /><b>Wer waren Ihre Eltern und was ist mit ihnen passiert?</b><BR />Zanellato Kraus: Mein Vater Dante Zanellato war Römer, nonno Bendetto hatte eine gute Stelle im Innenministerium und die Familie lebte in einer Eigentumswohnung vis a vis vom Kolosseum. Meine Mutter Margarethe Kornblum stammte aus Gleiwitz in Oberschlesien und kam aus einer sehr gebildeten, wohlhabenden jüdischen Familie. <BR /><BR /><b>Wie fand Ihr italienischer Vater Ihre deutsche Mutter?</b><BR />Zanellato Kraus: Mein Vater war italienischer Fähnrich, wurde zur Ausbildung nach Oberschlesien geschickt und wohnte dort bei der angesehenen Familie Kornblum. Zunächst verschaute sich mein Vater in meine hübsche Tante Lilli, geheiratet hat er dann meine weltoffene, herzliche und großzügige Mutter Margarethe – und zwar 1928 in Bangkok.<BR /><b><BR />Bangkok?</b><BR />Zanellato Kraus: Nach der Militärausbildung hat mein Vater von Agnelli die Generalvertretung der Fiat in Asien übertragen bekommen. Aber meiner Mutter bekam das Tropenklima nicht, so ist sie zurückgekehrt nach Europa.<BR /><BR /><b>Wie verschlug es Ihre Eltern auf den Ritten?</b><BR />Zanellato Kraus: Meine Mutter, die eine begnadete Pianistin war, erholte sich am Predigtstuhl in Bad Reichenhall. Dort im Hotel war zufällig die Tochter meiner späteren Zieheltern, Herta Pattis, Direktrice. Dieser erzählte sie, dass sie zur Erholung an die Riviera möchte. Aber sie empfahl meiner Mammina, so nannte ich meine Mutter, den Ritten, die Riviera der Dolomiten. Bald darauf verzichtete mein Daddy auf seinen Posten bei der Fiat, kam auf den Ritten und sie bauten 1932 in Oberbozen eine Villa. Am 10. April 1936 kam ich im Grieserhof zur Welt. Ich blieb ein Einzelkind. Meine Mutter starb 1939 an einer Lungenembolie und mein Vater wurde wenige Monate später 1940 in Addis Abeba durch einen Schuss in den Hals getötet. Bereits beim Tod meiner Mutter hatte Daddy meine Tante Ilse gebeten auf den Ritten zu kommen, um sich um mich zu kümmern. Für unseren Unterhalt vermieteten wir unsere Villa.<BR /><BR /><b>Können Sie sich noch an Ihre Eltern erinnern?</b><BR />Zanellato Kraus: Mein Vater war ein charmanter Mann, ein sehr sportlicher Daddy. Ich sehe ihn vor mir, wie er vom Pferd steigt und ihm ein Stück Zucker gibt. Und das Bild von meiner Mammina, das ich lebendig im Kopf habe, ist, wie sie in einem Dirndlkleid – sie trug sehr gern Dirndl – und einer weißen bestickten Strickjacke zu mir ins Zimmer schaute. Den Rest über meine Familie weiß ich aus Erzählungen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="858029_image" /></div> <BR /><BR /><b>Wie ging es nach dem Krieg mit der kleinen „Viky“ weiter?</b><BR />Zanellato Kraus: Nach der Volksschule habe ich die Aufschnaiter-Mittelschule besucht. Mein Lehrer war Josef von Aufschnaiter. Dort haben wir so viel Latein gelernt wie heute an der Oberschule. Ich wollte eigentlich auf das Humanistische Gymnasium gehen, aber mir wurde von einem polnischen Priester, der in der Pension meiner Zieheltern wohnte, die Handelsoberschule empfohlen. Später war ich dann 25 Jahre lang als Verwaltungssekretärin in der Lehranstalt für kaufmännische Berufe in Meran tätig, habe per Zufall meinen Mann Ernst Emil Kraus kennengelernt, der als Soldat der Wehrmacht in der Ukraine gekämpft hatte. Ich bin dankbare 2-fache Mutter. <BR /><BR /><b>Wer von Ihrer Familie hat den Holocaust überlebt?</b><BR />Zanellato Kraus: Lotte, die jüngste Schwester meiner Mutter, war rechtzeitig mit ihrer Familie nach Kalifornien geflohen. Die Brüder meines Vaters sind nach Brasilien ausgewandert. Mein Onkel Fausto wollte mich zu sich holen. Nach einem Jahr in Recife bin ich zurück. Ich hatte so Heimweh, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. Die Sehnsucht nach meiner Ziehmutter und Südtirol war zu groß.<BR /><BR /><b>Sind Sie zornig, wenn Sie zurückblicken?</b><BR />Zanellato Kraus: Nein, Hass ist etwas, was ich nicht kenne. Ich sehe in allem eine Fügung Gottes.<BR />